Familienbande
adressiert, c/o Die Postamtsvorsteherin, Ryal Bank, Northumberland, und noch verschlossen.
»Sie wollte sie nicht öffnen«, erklärte Miss Deyntry. »Sie war eine ehrliche alte Haut, und es wäre mit ihrer Religion unvereinbar gewesen, sich an der Königlichen Post zu vergreifen.«
»Aber warum hat sie meine Mutter nicht nach Black Pockrington und Flawse Hall schicken lassen?« fragte Lockhart. »Warum zu Händen der Postamtsvorsteherin in Ryal Bank?«
»Damit dein Großvater sie in die Finger kriegte und wußte, was sie tat? Hast du ‘ne weiche Birne? Das alte Ekel war so eifersüchtig, daß er sie ohne Zögern zensiert hätte. Nein, deine Mutter war zu pfiffig für den da drüben.«
Lockhart betrachtete den Stempel eines der Briefe und sah, daß er 1961 in Amerika abgestempelt worden war.
»Der hier wurde fünf Jahre nach ihrem Tod aufgegeben. Warum hat Miss Johnson ihn nicht zurückgeschickt?«
»Dann hätte sie ihn öffnen müssen, um eine Absenderadresse zu finden, und das hätte sie nie über sich gebracht«, sagte Miss Deyntry. »Ich sagte dir doch schon, die Königliche Post war ihr heilig. Außerdem wollte sie den einzigen Freund deiner Mutter nicht wissen lassen, daß sie tot war. ‹Besser in Hoffnung leben als sich mit Trauer einrichten¤, sagte sie immer, und sie wußte, wovon sie sprach. Ihr Verlobter wurde in Ypres vermißt, aber daß er gefallen war, hat sie nie zugegeben. Sie glaubte an Liebe und ein ewiges Leben, was ihr innere Stärke verlieh. Ich wünschte, ich könnte an beides glauben, aber ich kann‘s nicht.«
»Ich nehme an, mir steht es zu, sie zu öffnen«, sagte Lockhart. Miss Deyntry nickte.
»Außer deinem Aussehen hat sie dir nicht viel hinterlassen, aber ich glaube kaum, daß du deines Vaters Namen in irgendeinem dieser Briefe finden wirst.«
»Vielleicht finde ich einen Hinweis.«
Doch davon wollte Miss Deyntry nichts wissen. »Bestimmt nicht. Soviel kann ich dir jetzt schon verraten. Du wärst besser beraten, die alte Romafrau im Wohnwagen zu fragen, die behauptet, sie könne weissagen. Dein Vater hat in seinem ganzen Leben nicht einen einzigen Brief geschrieben.«
Lockhart beäugte sie mißtrauisch. »Da sind Sie sich ja offenbar sehr sicher«, sagte er, doch Miss Deyntry hielt dicht. »Sie könnten mir wenigstens verraten, warum Sie ...«
»Hebe dich hinweg«, sagte sie und stand vom Tisch auf. »Erinnert mich zu sehr an Clarissa, wenn du da sitzt und über Briefen aus grauer Vorzeit den Kopf hängen läßt. Geh und frag die weise Frau, wer dein Vater war. Sie verrät es dir eher als ich.«
»Weise Frau?« wiederholte Lockhart. »Die Wahrsagerin«, sagte Miss Deyntry, »die behauptet, daß sie von der alten Elspeth Faas aus den alten Sagen abstammt.« Sie ging durch den Gang voran zur Haustür, und Lockhart folgte ihr mit dem Briefbündel und dankte ihr. »Bedank dich nicht«, sagte sie barsch. »Danksagungen sind Worte, davon hatte ich mehr als genug. Wenn du irgendwann mal Hilfe brauchst, komm vorbei und sag‘s mir. Mit dieser Sorte Dank kann ich etwas anfangen, wenn ich mich nützlich machen kann. Alles andere ist Geschwätz. Und jetzt verschwinde und laß dir von der Alten wahrsagen. Und vergiß nicht, ihre Handfläche zu versilbern.« Lockhart nickte und ging um das Haus herum auf die Wiese, wo er bald darauf in zwanzig Meter Entfernung vom Wohnwagen in die Hocke ging und nichts sagte, sondern instinktiv uralte Umgangsformen befolgend, darauf wartete, angesprochen zu werden. Der Zigeunerhund bellte und verstummte wieder. Von dem offenen Feuer stieg Rauch in die windstille Morgenluft, und in den Geißblattbüschen an Miss Deyntrys Gartenmauer summten die Bienen. Die Roma gingen ihren Geschäften nach, als gäbe es Lockhart überhaupt nicht,
doch nach einer halben Stunde kam eine alte Frau die Stufen des Wohnwagens hinunter und trat zu ihm. Sie hatte ein braunes, vom scharfen Wind gerötetes Gesicht, und ihre Haut war so zerfurcht wie die Rinde einer alten Eiche. Sie hockte sich vor Lockhart hin und streckte die Hand aus.
»Du wirst mir die Kralle versilbern«, sagte sie. Lockhart griff in seine Hosentasche, der er ein Zehn-Pence-Stück entnahm, das die Frau aber nicht anrührte.
»Da is kein Silber«, stellte sie fest.
»Anderes Kleingeld habe ich nicht«, sagte Lockhart.
»Dann nimm am besten Gold«, sagte die Alte.
Lockhart suchte in Gedanken nach etwas Goldenem, bis ihm schließlich sein Füllfederhalter einfiel. Er holte ihn raus und schraubte die Kappe ab. »Mehr Gold
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