Familienbande
habe ich nicht.«
Die Hand der Zigeunerin, auf der sich die Adern wie Efeuranken abhoben, griff nach dem Füller und hielt ihn fest umklammert. »Du hast die Gabe«, sagte sie, und kaum hatte sie das gesagt, schien der Füller ein eigenes Leben zu bekommen: Er wand sich in ihren Fingern und zuckte wie die Wünschelrute eines Rutengängers oder ein Haselzweig. Lockhart starrte den sich krümmenden Füller an, dessen Schreibfeder direkt auf ihn zeigte. »Du hast die Gabe des Wortes, aye, und eine Zunge zum Singen. Der Füller wird eine Kompaßnadel sein, aber du wirst seine Botschaft falsch verstehen.« Sie hielt den Füller in eine andere Richtung, aber die Feder bog sich um und deutete auf ihn. Dann gab sie ihm das Schreibgerät zurück.
»Sehen Sie sonst noch etwas?« fragte Lockhart. Die Zigeunerin nahm aber nicht seine Hand, sondern starrte auf den Boden zwischen ihnen.
»Ein Tod, zwei Tode, vielleicht noch mehr. Drei offene Gräber, und eins bleibt leer. Ich sehe einen Gehängten am Baum und noch mehr, die getötet wurden. Mehr nicht. Geh jetzt.«
»Nichts über meinen Vater?« fragte Lockhart.
»Um deinen Vater geht es? Du suchst nach ihm und zwar sehr lang. Dabei könntest du ihn finden im Gesang. Mehr erfährst du von mir nicht.«
Lockhart steckte den Füller wieder fort und zog eine Pfundnote aus der Tasche. Die Alte spuckte aus, als sie den Geldschein nahm. »Papier«, murmelte sie, »es mußte Papier sein, denn Papier ist Holz, doch Papier und Tinte werden dir nicht helfen, eh‘ du deine Gabe nicht wiederbekommst.« Und damit stand sie auf und verschwand wieder im Wohnwagen, während Lockhart, ohne sich recht bewußt zu sein, wo sie genau gehockt hatte, mit zwei Fingern in der Luft ein Kreuzzeichen machte. Dann wandte er sich ebenfalls zum Gehen und schritt das Tal hinunter in Richtung alte Heeresstraße und die Stadt Hexham. Noch am selben Abend war er wieder im Sandicott Crescent. Er traf eine verängstigte Jessica an.
»Die Polizei war da«, sagte sie, kaum daß er das Haus betreten hatte, »sie wollte wissen, ob wir in letzter Zeit irgend etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört hätten.«
»Was hast du ihnen geantwortet?«
»Die Wahrheit«, sagte Jessica. »Daß wir gehört haben, wie Menschen schrien, Mr. O‘Brains Haus explodierte, Fenster zerbrachen und all das.« »Haben sie nach mir gefragt?« sagte Lockhart. »Nein«, sagte Jessica, »ich habe nur gesagt, du seist arbeiten.« »Dann haben sie also das Haus nicht durchsucht?« Jessica schüttelte den Kopf und musterte ihn ängstlich.
»Was ist nur passiert, Lockhart? Das war einmal so ein ruhiger Straßenzug, und plötzlich scheint alles drunter und drüber zu gehen. Warst du eigentlich informiert, daß jemand die Telefonverbindung zum Haus der Racemes durchtrennt hat?«
»War ich«, sagte Lockhart, womit er gleichzeitig die Frage beantwortete und den Verantwortlichen nannte.
»Das ist alles so eigenartig, und die Misses Musgrove mußten sie in eine Nervenklinik stecken.«
»Na also, ein Haus mehr, das wir verkaufen können«, sagte Lockhart, »und Mr. O‘Brain wird wohl auch nicht wiederkommen.«
»Mr. und Mrs. Raceme auch nicht. Heute morgen kam ein Brief von ihm, in dem steht, daß sie ausziehen.«
Lockhart rieb sich vergnügt die Hände. »Damit sind auf dieser Straßenseite nur noch der Oberst und die Pettigrews übrig. Was ist mit den Grabbles und Mrs. Simplon?«
»Mr. Grabble hat seine Frau rausgeworfen, und Mrs. Simplon kam vorbei, um mich zu fragen, ob sie mit der Mietzahlung
aussetzen könne, bis ihre Scheidung gelaufen ist.«
»Du hast doch hoffentlich abgelehnt«, sagte Lockhart.
»Ich habe gesagt, ich müsse dich erst fragen.«
»Die Antwort lautet nein. Sie kann mit den anderen verschwinden.«
Jessica sah ihn verunsichert an, beschloß aber, keine Fragen zu stellen. Lockhart war ihr Mann, außerdem lud sein Gesichtsausdruck nicht gerade zum Fragenstellen ein. Jedenfalls ging sie an diesem Abend sorgenerfüllt zu Bett. Lockhart neben ihr schlief tief und fest wie ein Kind. Er hatte bereits beschlossen, sich als nächstes um Oberst Finch-Potter zu kümmern, doch vorher mußte er das Problem Bullterrier lösen. Lockhart mochte Bullterrier. Sein Großvater hielt mehrere auf seinem Gut, die wie der Hund des Obersten gutmütig waren, falls man sie nicht reizte. Lockhart beschloß, den Bullterrier wieder einmal zu reizen, doch vorher durfte er die Nummer 10 nicht aus den Augen lassen. Die unter dem Abwasserrohr des Obersten liegende
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