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Familienbande

Familienbande

Titel: Familienbande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharpe
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das Wasser des Stausees schwappte gegen die Steine zu seinen Füßen. Lockhart hob einen Kiesel auf und schleuderte ihn ins Dunkel. Er fiel mit einem Plopp ins Wasser und verschwand ebenso vollständig wie sein eigener Vater verschwunden war, und seine Chancen, einen von beiden wiederzufinden, waren gleich groß. Doch er würde es versuchen, und als er der Straße weitere drei Kilometer gefolgt war, stieß er auf die gen Norden führende alte römische Heeresstraße. Nach Überqueren derselben gelangte er in eine offenere Landschaft und ließ die den Stausee umgebenden dunklen Wälder hinter sich. Vor ihm lagen Britherton Law und dreißig Kilometer Leere. Er würde unterwegs übernachten müssen, doch er kam an einem seit langem leerstehenden Bauernhaus mit Heu im Kuhstall vorbei. Dort würde er die Nacht verbringen, um am Morgen in das Farspring-Tal hinunterzugehen und Divet Hall aufzusuchen. Und wie er so des Weges schritt, kamen ihm seltsame, aus irgendeinem geheimen Winkel seines Wesens entweichende Worte in den Sinn, die er immer gekannt, aber bis dahin nie beachtet hatte. Sie tauchten in Liederœ und Reimbruchstücken auf und erzählten von Dingen, die er nie erlebt hatte. Lockhart ließ sie gewähren und machte sich nicht die Mühe, das Warum oder Weshalb ihres Auftauchens zu ergründen. Ihm genügte es, nachts allein durch sein Land zu schreiten. Gegen Mitternacht erreichte er den Bauernhof, der Hetchester hieß, trat durch das Loch in der Mauer, wo früher das Tor gehangen hatte, und machte sich im Heu des alten Kuhstalles sein Bett. Das Heu roch modrig und alt, doch er war es zufrieden und schlummerte bald sanft.
Bei Sonnenaufgang war er wieder unterwegs, doch erst nach halb sieben überquerte er den Hügel von Farspring und sah in das bewaldete Tal hinab. In anderthalb Kilometer Entfernung lag Divet Hall, aus einem Schornstein quoll Rauch. Miss Deyntry war auf den Beinen, umgeben von Hunden, Katzen, Pferden, Papageien und einem zahmen Fuchs, den sie eigenhändig mitten aus einer Meute Jagdhunde gerettet hatte, während seine Mutter in Stücke gerissen wurde. In mittleren Jahren verabscheute Miss Deyntry Hetzjagden ebenso inbrünstig, wie sie ihnen in ihrer wilden Jugend gefrönt hatte. Außerdem verabscheute sie die Gattung Mensch und war für ihre Misanthropie bekannt, eine Kehrtwendung um hundertachtzig Grad, die man meist darauf zurückführte, daß sie dreimal sitzengelassen worden war. Aus welchem Grund auch immer, sie galt als Frau mit spitzer Zunge, die von den meisten gemieden wurde. Die einzigen Ausnahmen waren Landstreicher und die wenigen umherziehenden Zigeuner, die noch nach der Art der Vorväter lebten. Früher hatten sie im Winter Kessel und Kannen gefertigt, die sie im Sommer verkauften, heute zogen nur noch wenige Wohnwagen durchs Land, die im Sommer auf der Wiese hinter Divet Hall abgestellt wurden. Auch diesmal stand ein Wohnwagen dort, als Lockhart den steilen Hang hinuntersprang, und der dazugehörige Hund fing an zu bellen. Nicht lange, und Miss Deyntrys Menagerie stimmte ein. Lockhart öffnete die Tür, begleitet von einem kakophonischen Konzert der Hunde, die er jedoch überhaupt nicht registrierte, so wie er auch sonst fast nichts registrierte, und klopfte an die Tür. Nach einer Weile tauchte Miss Deyntry auf. In einen Kittel gekleidet, den sie ohne Rücksicht auf Anerkennung, sondern lediglich aus Nützlichkeitserwägungen entworfen hatte (er hatte vorne von oben bis unten Taschen), sah sie eher originell als attraktiv aus. Außerdem war sie brüsk.
»Wer sind Sie?« fragte sie, kaum daß sie Lockhart in Augenschein genommen und mit unmerklicher Anerkennung das Heu in seinen Haaren sowie sein unrasiertes Kinn registriert hatte. Miss Deyntry war übertriebene Reinlichkeit zuwider.
»Lockhart Flawse«, antwortete Lockhart ebenso schroff, wie sie gefragt hatte. Miss Deyntry musterte ihn mit gesteigertem Interesse.
»Du bist also Lockhart Flawse«, sagte sie und machte die Tür auf. »Na, steh nicht so rum, Junge. Komm rein. Du siehst aus, als könntest du Frühstück vertragen.«
Lockhart folgte ihr den Gang hinunter in die Küche, in der es nach selbstgeräuchertem Speck roch. Miss Deyntry schnitt einige dicke Speckscheiben ab und legte sie in die Pfanne.
»Draußen übernachtet, wie ich sehe«, sagte sie. »Hab‘ gehört, du hättest geheiratet. Hast sie wohl sitzenlassen, was?«
»Lieber Himmel, nein«, sagte Lockhart. »Mir war nur danach, gestern nacht mal draußen im Freien

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