Familienbande
stolperte wieder, und diesmal fiel sie in den Graben. Das Wasser war nicht tief, doch überaus kalt. Bei dem Versuch, das andere Ufer zu erklettern, rutschte sie ab, gab auf und watete im knietiefen eisigen Wasser auf den dunklen Umriß des Hügels und das noch dunklere Loch des großen Tunnels zu. Bei jedem unsicheren Schritt, den sie machte, ragte es größer und furchteinflößender vor ihr auf. Mrs. Flawse zögerte. Das schwarze Loch vor ihr erzählte vom Hades, die bellende Meute hinter ihr von Pluto, und zwar nicht von einer spaßigen Cartoonfigur aus Disneyland, sondern von dem schrecklichen Gott der Unterwelt, vor dessen dem Mammon geweihten Altar sie ohne es zu wissen gebetet hatte. Mrs. Flawse war zwar keine gebildete Frau, wußte aber, daß sie zwischen dem Teufel und œ über den Umweg der von den Wasserwerken der Region Gateshead und Newcastle belieferten Wasserhähne, Toiletten und Ausgüsse œ dem Beelzebub namens Ozean wählen konnte. Doch als sie zögerte, blieben die kläffenden Hunde abrupt stehen, und vor dem Himmel hoben sich die Umrisse einer auf einem Pferd sitzenden Gestalt ab, die mit einer Peitsche knallte.
»Zurück, ihr Mistviecher«, rief Lockhart, »zurück in eure Zwinger, ihr höllisches Raubzeug!«
Vom Wind getragen, erreichte seine Stimme Mrs. Flawse, die ausnahmsweise einmal dankbar war, daß es ihren Schwiegersohn gab. Gleich darauf wurde sie eines Besseren belehrt. Im gleichen Tonfall, mit dem er auf die Hunde eingeschimpft hatte, verfluchte Lockhart Mr. Dodd wegen seiner Dummheit.
»Hast du das Testament vergessen, du verdammter Trottel?« fuhr er ihn an. »Soll das alte Miststück doch den Umkreis des Anwesens ruhig um eine Meile verlassen, dann verliert sie das Erbe. Soll sie doch verschwinden und verflucht sein.«
»Das war mir entfallen«, gab Mr. Dodd zerknirscht zu und wendete sein Pferd, um hinter der Meute her nach Flawse Hall zu reiten, während Lockhart ihnen folgte. Mrs. Flawse zögerte nicht länger. Sie hatte ebenfalls die entsprechende Testamentsklausel vergessen. Mitnichten würde sie verschwinden und verflucht sein. Mit letzter Kraft krabbelte sie aus dem Graben und wankte zum Herrenhaus zurück. Dort angekommen, fehlte ihr die Kraft, über die Laken in ihr Schlafzimmer hinaufzuklettern, daher probierte sie es an der Tür. Diese war unverschlossen. Sie ging hinein und stand zitternd im Dunkeln. Die Küchentür stand offen, und unter der Kellertür sah sie einen Lichtstrahl. Mrs. Flawse brauchte einen Drink, etwas Starkes, um ihre Lebensgeister zu wecken. Leise ging sie zur Kellertür und öffnete sie. Gleich darauf gellten ihre Schreie durch das Haus, denn dort saß vor ihren eigenen Augen, nackt und mit einer mächtigen Naht von der Leiste bis zur Kehle, der alte Mr. Flawse auf einem blutverschmierten bloßen Holztisch, und seine Augen waren die eines Tigers. Hinter ihm stand Mr. Taglioni mit einem Stück Watte, das er, eine Melodie aus Der Barbier von Sevilla pfeifend, ihrem Gatten in die Hirnschale zu stopfen schien. Ein Blick war genug, und nach dem Geschrei wurde Mrs. Flawse ohnmächtig. Lockhart trug die wirres Zeug brabbelnde Frau in ihr Zimmer zurück, wo er sie aufs Bett legte. Dann zog er die Laken und Decken hinauf und fesselte seine Schwiegermutter ans Bettgestell.
»Du wirst nicht mehr beim Lichte des Mondes durch die Gegend wandern«, sagte er vergnügt, ging hinaus und schloß die Tür. Er hatte recht. Als Mr. Dodd ihr das Frühstück brachte, starrte sie mit irrem Blick an die Decke und quasselte vor sich hin.
Unten im Keller quasselte Mr. Taglioni ebenfalls vor sich hin. Mrs. Flawses hysterischer Ausbruch im Keller hatte ihn endgültig demoralisiert. Schlimm genug, einen Toten auszustopfen, aber mitten in der Nacht von einer kreischenden Witwe bei der Arbeit unterbrochen zu werden, war einfach zuviel.
»Bringen Sie mich nach Hause«, flehte er Lockhart an, »bringen Sie mich heim.«
»Erst wenn Sie fertig sind«, sagte Lockhart ungerührt. »Er muß sprechen und die Hände bewegen können.«
Mr. Taglioni schaute zu dem maskenähnlichen Gesicht auf.
»Präparation ist das eine, Marionettenherstellung etwas anderes«, sagte er. »Sie wollten, daß er ausgestopft wird, jetzt ist er ausgestopft. Nun auf einmal soll er sprechen können. Was erwarten Sie eigentlich von mir? Wunder? Da müssen Sie Gott fragen.«
»Ich frage überhaupt keinen. Ich befehle«, sagte Lockhart und hielt ihm den kleinen Lautsprecher hin. »Den bauen Sie in, wo sein Kehlkopf
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