Familienpakt: Kriminalroman (German Edition)
als es sich Keller vorgestellt hatte. Er brauchte eine Weile, bis er die unscheinbare, in verwittertem Grau verputzte und abseits gelegene Halle gefunden hatte. Durch ein vom Rost zerfressenes Tor trat er ein. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Dämmerlicht, weshalb er sehr vorsichtig über den an vielen Stellen aufgeplatzten Betonboden schritt.
Ganz am anderen Ende der circa 40 Meter langen Halle standen einige Klappstühle vor einer provisorischen, kleinen Bühne. Zwei ausgediente Schreibtischlampen, die auf den Bühnenboden gestellt worden waren, dienten als notdürftige Rampenlichter.
Als Keller näher kam, konnte er auch seine Tochter sehen. Das heißt: Er meinte, dass es sich um seine Tochter handelte. Aber was tat sie da?
Sophie trug eine eng anliegende Gymnastikhose und einen Sport-BH. Sie stand an einer schmalen Metallstange, die zum Abstützen eines darüber verlaufenden Brückenwegs diente. Die Säule diente ihr als Übungsobjekt für das, was sie ihrem Vater demonstrieren wollte. Und der machte große Augen!
Zu souligen Musikklängen, die aus einem tragbaren CD-Player schepperten, schmiegte sich Sophie an die Stange, umschlang sie mit ihren Armen, dann mit den Beinen, löste ihren Oberkörper mit wiegenden Bewegungen und beugte sich soweit zurück, bis ihre Fingerspitzen den Boden berührten. Gleich darauf schwang sie sich erneut auf, stürmte die Stange mit ihrem trainierten, gleichwohl zarten Körper, hievte sich scheinbar mühelos hinauf, um dann in aufreizender Langsamkeit an der Stange hinabzugleiten und im vollendeten Spagat am Boden anzukommen. Sie umspielte die Säule wie einen Tanzpartner, den sie mit lasziver Geschmeidigkeit verführen wollte, und setzte zu immer neuen akrobatischen Übungen an.
Keller war hin- und hergerissen zwischen Anerkennung dieser nicht erwarteten Leistung und dem Verlangen, seiner Jüngsten diesen zweideutigen Spaß augenblicklich zu untersagen. Schließlich rang er sich einen zaghaften Applaus ab und fragte so locker er konnte: »Was soll das werden, wenn es fertig ist?«
Sophie verließ die Stange, nahm sich ein Handtuch von einer Stuhllehne und tupfte sich über Stirn und Nacken. »Ein formvollendeter Pole-Dance«, sagte sie, als würde das alles erklären. Da ihr Vater sie ratlos ansah, holte sie weiter aus: »Wenn ich dich richtig verstanden habe, soll ich versuchen, mich in die Rotlichtszene einzuschleusen. Da ich keine Lust habe, mich als Animiermädchen an eine Bar zu stellen, habe ich mich für die unverfängliche Variante entschieden.«
»Unverfänglich?« Keller konnte seinen entsetzten Gesichtsausdruck kaum unterdrücken.
Sophie kicherte. »Was bist du denn so verklemmt, Paps? Liegt’s daran, dass ich dein Töchterchen bin? Keine Sorge, ich weiß schon, was ich tue, wenn ich mich darauf einlasse.« Sie zog zwei der Klappstühle für sich und ihren Vater heran. Beide setzten sich. »Ich werde in dem Schuppen, in dem dieser Rolf verkehrte, für ein oder zwei Abende anheuern, meine Show abziehen und meine Augen und Ohren aufsperren. Und um dich zu beruhigen: Auf Männer werde ich mich dort ganz gewiss nicht einlassen.«
»Ich hoffe, dass du die Wahl haben wirst«, sagte Keller mit aufkeimender Sorge und wachsenden Zweifeln an der Tauglichkeit seines eigenen Vorschlags. »Jedenfalls«, fügte er eilig hinzu, »werden sich Jochen und Burkhard unters Publikum mischen und aufpassen, dass nichts schiefgeht. Am liebsten würde ich es selbst machen, aber ich kann mich dort ja nicht blicken lassen, weil der ein oder andere mich als alten Bullen wiedererkennen könnte.«
Sophies Schmunzeln zauberte zwei winzige Grübchen auf ihre Wangen. »Meine großen Brüder beschützen mich? Hast du mit ihnen denn schon darüber gesprochen?«
»Das werde ich als Nächstes tun«, verkündete Keller mit fester Stimme und machte damit deutlich, dass sich seine Söhne nicht aus der Verantwortung ziehen könnten.
23
Er hatte den Kragen seines Mantels nach oben geschlagen, den Schal bis über den Mund gelegt und seinen breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezogen. Diese Tarnung sollte reichen, um inkognito das Terrain zu sondieren. Denn das war das Wichtigste vor einer verdeckten Ermittlung: dass man das Gebiet, in dem man zuschlagen wollte, wie seine Westentasche kannte.
Die Bar oder vielmehr der Bumsschuppen, den Konrad Keller suchte, lag im Bermudadreieck zwischen Sterntor, Frauentormauer und Luitpoldstraße. Mitten im Nürnberger Rotlichtviertel also, das
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