Familienpakt: Kriminalroman (German Edition)
Keller durch viele seiner früheren Einsätze durchaus vertraut war. Dennoch fühlte er sich verpflichtet, auf Nummer sicher zu gehen und sein Bild von dem Etablissement und der näheren Umgebung auf den neuesten Stand zu bringen. Er wollte ja unter allen Umständen vermeiden, dass Sophie böse Überraschungen erlebte.
Während er langsamer wurde und sich wie ein gewöhnlicher Passant die ausgeblichenen und von Feuchtigkeit gewellten Bilder diverser leicht bekleideter Frauen in den Schaukästen vor dem Lokal ansah, versuchte er beim Weitergehen den Laden auch von innen zu sehen. Dies war nur bedingt möglich, denn ein dunkelroter Vorhang, der wohl auch als Kälteschutz diente, schirmte den Eingangsbereich vor neugierigen Blicken ab.
Keller hatte Glück, dass genau in diesem Moment ein anderer Mann an seine Seite trat. Auch dieser musterte zunächst die Fotos in den Schaukästen, sah sich dann kurz nach links und rechts um und betrat das Lokal. Als er den Vorhang zur Seite schob, erhaschte Keller einen kurzen Blick ins Innere. Ihm blieben nur wenige Sekunden, doch die reichten Keller, um erleichtert aufatmen zu können: Im schummerigen Foyer der Bar hatte er einen stark tätowierten, gedrungenen Muskelprotz und eine dickliche ältere Frau mit feuerrot gefärbten Haaren erspäht. Rita, die altgediente Chefin, die auch gut mit der etwas antiquierten Bezeichnung Puffmutter leben konnte, und Bruce, ihre getreue rechte Hand, Barmann und Rausschmeißer in einer Person.
Diese beiden Szenegrößen waren im Viertel mittlerweile Legenden. Beides keine unbeschriebenen Blätter, beide mehrfach vorbestraft. Aber, so sagte Keller die Erfahrung, Rita und Bruce waren im Grunde genommen Geschäftsleute, die ihren Laden am Laufen halten und Geld verdienen wollten. Von ihnen würde Sophie nichts zu befürchten haben, im Gegenteil: Beide erschienen Keller unter diesen speziellen Umständen sogar als ein Garant dafür, dass seiner Tochter bei ihren Auftritten kein Haar gekrümmt würde – wenigstens, solange sie die Kasse klingeln ließ und nicht aufflog.
Zufrieden wandte sich Keller ab, schlenderte die Straße bis zum Ende entlang und verschwand in einer Seitengasse. Um nichts dem Zufall zu überlassen, wollte er auch den rückwärtigen Teil des Gebäudes in Augenschein nehmen. Wenn er es recht in Erinnerung hatte, gab es einen Hinterhof, in den auch der Notausgang mündete. Durch eben diesen hatte er einmal vor etlichen Jahren einen flüchtigen Schläger gejagt.
Während er den Häuserkomplex umrundete, machte er sich noch einmal Gedanken über die Erfolgsaussichten von Sophies Einsatz. Zwar galt es als sicher, dass Anne in Ritas Schuppen getanzt und vielleicht auch angeschafft hatte, aber würde Rolf nach Annes Tod noch hier auftauchen? Würden ihn die anderen Tänzerinnen verraten oder zumindest Hinweise auf sein Verbleiben geben können? Kellers Skepsis und Optimismus hielten sich die Waage. Er schätzte, dass seine Tochter mindestens drei Abende lang auftreten müsste, bis sie das Vertrauen ihrer neuen Kolleginnen gewinnen könnte. Frühestens dann wäre mit einem Ergebnis zu rechnen. Es sei denn, Rolf würde unverhofft früher auftauchen. Wie dem auch sei: Keller sah keine andere Möglichkeit, als es auf diese Weise zu versuchen.
Der Hinterhof war von einer Mauer umzäunt, doch in den Angeln der Einfahrt hingen längst keine Tore mehr. Vorsichtig lugte Keller um die Ecke und sah sich in dem Hof um. Er betrachtete die unansehnliche Rückseite des Hauses, von der der Putz großflächig abbröckelte. Die Fenster der oberen Stockwerke waren mit Jalousien verschlossen, unten gab es einen Lieferantenzugang und besagten Notausgang. Der Hof selbst diente vorwiegend als Abstellplatz für eine Reihe von Müllcontainern. Der Schnee bedeckte außerdem einige Stapel leerer Getränkekisten und drei umgeworfene Bierfässer. Da der Weg zwischen Notausgang und Toreinfahrt frei von Hindernissen war, hakte Keller auch diesen kritischen Punkt in seiner geistigen Checkliste ab.
Alles in allem, resümierte er, als er seinen Exkurs nach einer weiteren Runde um den Block abschloss, sollte nichts schiefgehen, wenn er Sophie in die Höhle des Löwen schickte. Dennoch musste er sich anstrengen, ein ungutes Gefühl zu verdrängen, dass sich trotz der positiv ausgefallenen Ortsbegehung nicht legen wollte.
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Das ungute Gefühl wuchs von Stunde zu Stunde an. Schreckliche Gedanken quälten ihn, als er am Abend neben seiner Frau auf dem Sofa saß und
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