Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
streben, hatte Noemi ihre Familie beschrieben und jetzt staunte ich über ihre messerscharfe Analyse. Obwohl sich die drei Menschen auf der Fotografie umarmten, wirkten sie, als gehörten sie nicht zusammen. Als klafften unsichtbare Gräben zwischen ihnen. Auf einem anderen Bild erkannte ich Noemi als kleines Mädchen. Keine Fotos als Frischgeborenes, fuhr es mir durch den Kopf. Tatsächlich ähnelten sich Frau Winter und Noemi in keinerlei Hinsicht, auch Herr Winter schien seine Gene nicht an die Tochter vererbt zu haben.
Frau Winter war mir gefolgt und verzog nun ärgerlich den Mund, weil ich vor den Fotos stehen geblieben war. Noemi sah mir derweil vom Sessel aus mit einem unergründlichen Blick hinterher. Als ich aufgestanden war, hatte sie mir nur müde zugenickt, sich aber keinen Zentimeter gerührt. Wie wenn ihr die Kraft gefehlt hätte, sich aufzuraffen. Als hätte sie aufgegeben.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Das Mädchen war todunglücklich und kam beinahe um vor Einsamkeit, während ihre Mutter so tat, als bemerkte sie es nicht. Ich konnte jetzt nicht einfach gehen und die beiden sich selbst überlassen. Womöglich tat sich Noemi noch etwas an.
Allerdings hatte ich keinen blassen Schimmer, wie ich das Gespräch auf Noemis Vermutung bringen sollte. Frau Winter einfach mit den zweifelhaften Anschuldigungen ihrer Tochter zu konfrontieren, schien mir nicht besonders klug. Sie würde mich endgültig aus dem Haus spedieren und ihre Tochter auf die nächste frei werdende Therapiecouch. Damit war keinem geholfen.
Das ungeduldige Räuspern Irene Winters riss mich aus meinen Gedanken. Die Arme auffordernd verschränkt, sah sie mich kühl an. Ihre Augen hatten sich wieder zu Schlitzen verengt und ich fragte mich irritiert, ob wir tatsächlich auf eine optisch erkennbare Zweiklassengesellschaft zustrebten. Derjenige Teil der Menschheit, der es sich leisten konnte, würde falten- und mimikfrei durch die Gegend laufen, während der andere weiterhin runzlig und mit erschlaffender Haut alterte.
Mit einer gereizten Bewegung warf die Winter ihr Haar zurück und ein paar Atemzüge lang starrte ich wie gebannt auf ihre blonden Locken. Mir war soeben eine gewagte Idee gekommen. Die Zeit war zu knapp, um mir tiefgründige Gedanken zu allfälligen Konsequenzen zu machen, es musste auf der Stelle geschehen. Ich beugte mich vor und riss Irene Winter ein Haar aus.
»Au!«, schrie sie auf und drückte den Finger an die Stelle, wo das Haar gewesen war. »Sind Sie jetzt komplett verrückt geworden?«
»Gut möglich. Aber wir sind noch nicht fertig«, sagte ich und schritt an der verblüfften Frau vorbei zurück ins Wohnzimmer. »Wir müssen reden. Aber diesmal Klartext!«
»Sie haben mir ein Haar ausgerissen!«, schrie mir Irene Winter hinterher. »Das ist Körperverletzung, ich werde Sie verklagen! Ich rufe die Polizei!«
»Ihre Tochter hier vermutet, dass sie nicht Ihre Tochter ist«, eröffnete ich das Gefecht. Frau Winter riss entsetzt die gelifteten Augen auf, während dem Mädchen die Kinnlade hinunterklappte.
»Ich habe gedacht, das hätten wir damals ausführlich besprochen!«, fuhr sie Noemi an. »Und Sie!« Wütend sah sie zu mir auf. »Sie geht das rein gar nichts an!«
»Noemi hat mich aber genau für diesen Zweck engagiert.«
»Ach, darum ging es die ganze Zeit! Die verdammten Blumen waren nur ein Ablenkungsmanöver!« Frau Winter starrte ihre Tochter ungläubig an.
»Du hast damit begonnen! Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass der es auf ein Familiendrama abgesehen hatte!«, schrie Noemi empört und strafte mich in der Folge mit Nichtbeachtung.
Es lief fantastisch. Innert Sekunden stand ich nicht nur in einem emotionalen Minenfeld, sondern auch zwei wutschäumenden Frauen gegenüber. Davor hatte mich im Privatdetektivfernkurs keiner gewarnt.
»Wir sollten diese Angelegenheit sachlich angehen«, versuchte ich, die aufgeheizte Stimmung zu entschärfen.
Ohne Erfolg.
»Nein, Sie verschwinden jetzt, und zwar sofort! Ich dulde Sie keine Sekunde länger in meinem Haus!«
Ich regte mich nicht.
Frau Winter funkelte mich grimmig an und griff zum Telefon, das sich auf einem Beistelltischchen neben dem Sofa befand. Wie beiläufig spannte ich das einzelne Haar, das ich ihr ausgerissen hatte, zwischen Daumen und Zeigefinger und begutachtete es eingehend.
»Interessant, welche Informationen in so einem dünnen Faden gespeichert sind. Ein ganzes Leben kann so rekonstruiert werden.« Ich hob den Kopf und blickte sie
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