Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
an. »Wussten Sie das?«
Von wegen: nicht skrupellos genug. Ich war soeben zu einem hinterhältigen Erpresser mutiert. Meine Kaltblütigkeit überraschte mich selbst.
An ihrem langsam aufklappenden Mund erkannte ich, dass die Winter endlich begriff. Zu meinem Glück wusste sie nichts von den rechtlichen Bedingungen der Rechtsmediziner. Und dass diese DNA hauptsächlich aus Speichelproben extrahierten.
Betont sorgfältig steckte sie das Telefon zurück in die Ladestation und setzte sich mit geradem Rücken hin.
»Was wollen Sie?«, fragte sie mit tonloser Stimme.
»Fragen Sie Noemi.«
»Ich will endlich die Wahrheit wissen!«, meldete sich diese rasch zu Wort, als wollte sie einem allfälligen Ausweichmanöver zuvorkommen.
Einen schier endlosen Moment lang sahen sich Mutter und Tochter an. Sie schienen meine Anwesenheit komplett vergessen zu haben. Schließlich atmete Frau Winter schwer auf und schlug sich die Hände vors Gesicht. Als sie wieder aufblickte, standen Tränen in ihren Augen.
»Eines Tages musste es ja so weit kommen.« Ihre Körperhaltung verlor zusehends an Spannung, mit einem Mal wirkte sie kraftlos. Wie in Trance erhob sie sich und ging zu einer Vitrine am anderen Ende des Raumes. Ich blickte zu Noemi hinüber, das Mädchen war angespannt und knetete mit verbissenem Gesichtsausdruck ihre Unterlippe. Als Frau Winter zurückkehrte, hatte sie nicht nur eine Packung Tempotaschentücher dabei, sondern auch eine spanische Brandyflasche, auf der 1866 stand, sowie drei Cognacgläser. Nachdem sie allen eingeschenkt und selbst einen großen Schluck getrunken hatte, setzte sie das Glas ab, verharrte aber in ihrer vorgebeugten Haltung. Sie presste die Handflächen fest zusammen, als sie zu sprechen begann: »Es ist wahr, Noemi ist nicht unsere leibliche Tochter.«
»Ich hab’s gewusst!«, rief Noemi triumphierend, im nächsten Augenblick entfuhr ihr ein kläglicher Laut.
»Es tut mir leid, Noemi. Ich hätte es dir schon lange sagen sollen.«
»Ich hab ja gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Aber du …« Noemi konnte die Tränen nicht länger zurückhalten und Frau Winter breitete die Arme aus. Zitternd erhob sich das Mädchen, stolperte zum Sofa hinüber und ließ sich laut aufschluchzend von der zierlichen Frau festhalten, während ihr diese zärtlich das Haar aus der Stirn strich. Wie eine ganz normale Mutter mit ihrer Tochter wirkten die beiden jetzt auf mich, obwohl sie unterschiedlicher nicht hätten sein können.
»Aber wieso?«, schniefte Noemi mit verquollenem Gesicht, als sie sich etwas beruhigt hatte.
»Obwohl aus medizinischer Sicht alles in Ordnung war, konnten Hans-Rudolf und ich keine Kinder bekommen. Dabei hätte er so gern eine Tochter gehabt.« Irene Winter brach ab, ihre Stimme zitterte, als sie fortfuhr: »Ich habe mich dann umgehört, Adoptionen waren zwar kein Problem, aber das Prozedere dauerte lange. Und Hans-Rudolf war dagegen. Er wollte unbedingt ein eigenes Kind. Mit seinen Genen«, fügte sie leise hinzu.
»Noemi ist nicht adoptiert?«, fragte ich erstaunt. Davon war ich eigentlich ausgegangen. In meinen Augen war das die naheliegendste Antwort auf die Unsicherheiten und Mutmaßungen Noemis gewesen. Falls sie das Bedürfnis gehabt hätte, ihre leiblichen Eltern ausfindig zu machen, hätte sie sich an die Schweizerische Fachstelle für Adoption wenden können. Die Leute dort waren erfahren darin, Adoptivkinder und ihre genetischen Eltern behutsam zusammenzuführen. Doch wie es schien, lagen die Dinge anders, als ich vermutet hatte.
Frau Winter presste sich ein paar Sekunden lang ein zerknülltes Taschentuch vor den Mund, bevor sie weitersprach: »Es war eine sehr schwierige Zeit für mich. Die Situation belastete unsere Ehe schwer. Ich ging oft in die Kirche. Meine Gebete wurden zwar nicht erhört, aber die Stille dort tat mir gut. Sie müssen wissen, meine Familie ist sehr katholisch«, erklärte sie mir. »Der Glaube gab mir Halt. Eines Tages vertraute ich mich einer Schwester an, Schwester Hanna. Sie spendete mir Trost und hörte mir zu. Ich hatte das Gefühl, endlich jemanden gefunden zu haben, der mich verstand. Alle waren überzeugt davon, es sei meine Schuld, dass wir keine Kinder kriegen konnten. Selbst meine eigenen Eltern verurteilten mich. Sie müssen sich das vorstellen: Ich stand unter unvorstellbarem Druck!
Ich spürte, wie sich mein Ehemann allmählich von mir abwandte, meine Freundinnen hatten längst alle Nachwuchs und gaben sich verständnisvoll, hinter
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