Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
Was bedeuten mochte, dass sie in der staatlichen Schule wegen ihrem Aussehen gehänselt worden war. Oder ihre schulischen Leistungen hatten den Ansprüchen der Eltern nicht genügt.
Ob sie von den Problemen ihrer Tochter ahnten, die auch nach dem Therapieversuch ernsthaft das Gefühl hatte, nicht in die Familie zu gehören, und Telefonanrufe fingierte, damit es aussah, als hätte sie Freundinnen? Andererseits: Was wussten Eltern überhaupt von ihren heranwachsenden Kindern? Bislang hatte die Mutter wenig Verständnis für das Anliegen Noemis gezeigt und deren Bedenken stets heruntergespielt. Als wäre diese noch ein kleines Mädchen, das man unmöglich ernst nehmen konnte. Lag dort der Ursprung für Noemis Behauptung, sie verbinde rein gar nichts mit ihren Eltern? Das spräche allerdings eher für eine ganz normale Teenagerhaltung und weniger für eine geheimnisumwitterte Herkunft.
Seit wir im Wohnzimmer saßen, hatte Noemi kein Wort mehr gesagt und versank scheinbar teilnahmslos in ihrem Sessel. Mir dämmerte, dass ich vielleicht der Einzige war, der ihr seit Langem richtig zugehört hatte.
»Ihrer Haushälterin ist vor zwei Tagen ein weißer Lieferwagen aufgefallen. Darin saß ein älterer Mann …«
»Ach, Dragana sieht manchmal mehr als normale Leute«, fiel mir Irene Winter ins Wort. »Überall wittert sie Böses. Das muss wohl am Krieg liegen, den sie miterleben musste. Ich an Ihrer Stelle würde ihren Worten nicht zu viel Bedeutung beimessen.« Sie übertünchte ihre offensichtliche Nervosität mit einem entschuldigenden Lächeln. Meine Anwesenheit schien sie zunehmend zu beunruhigen. Ich fragte mich, woran das lag.
»Sie selbst haben diesen Mann nicht gesehen?«
»Nein.«
»Aber Sie waren bereits wach, als Dragana hier ankam?«
»Nein.«
Wahrscheinlich hätte ich ihr geglaubt, wäre nicht in diesem Moment Dragana die Treppe heruntergekommen. Sie trug den Staubsauger mit sich und für den Bruchteil einer Sekunde weiteten sich ihre Augen erstaunt, als sie Frau Winters Antwort vernahm. Mein Glück, dass ich genau in diesem Moment hingesehen hatte.
»Sind Sie sicher?«
»Natürlich! Ich finde Ihre Fragerei langsam anmaßend!« Die Winter richtete sich auf und trank hastig einen Schluck Tee. Sie schien meinen Blick zu Dragana bemerkt zu haben. Wir wussten alle drei, dass sie log.
»Weshalb geben Sie nicht zu, dass Sie schon auf waren?«
»War ich nicht!«
»Soll ich Dragana zurückrufen?«
Noemi erwachte ruckartig aus ihrer Apathie. »Mom?«
»Nenn mich nicht ›Mom‹!«, fuhr ihre Mutter sie gereizt an und wandte sich gleich wieder mir zu. »Also gut. Ich war früh wach. Ich hatte viele Termine an diesem Tag und wollte nicht auf meine Pilatesübungen verzichten …«
»Und Ihnen ist der Mann wirklich nicht aufgefallen?«
Sie wand sich. »Es war noch dämmrig, ich bin mir nicht sicher. Und jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe! Meine Nerven …«
Frau Winter drückte sich die Fingerspitzen an die Stirn, als litte sie unter plötzlichen Kopfschmerzen.
»Und als Noemi die Blumen fand?«, bohrte ich weiter. »Ist Ihnen da kein Licht aufgegangen?«
Sie holte tief Atem. »Wir haben uns erst am Abend gesehen …«
»Ich solle dich nicht mit solchem Quatsch belästigen, hast du gesagt!«, stieß Noemi bitter hervor.
»Wir haben uns gestritten«, gab Irene Winter zu. »Wie so oft in letzter Zeit. Ich habe überhaupt nicht mehr an den Mann gedacht.«
»Und weshalb haben Sie nicht gleich zugegeben, dass Sie ihn gesehen haben?«
Frau Winter zögerte unmerklich. »Ich wollte Noemi nicht beunruhigen. Sie macht sich ohnehin mehr Gedanken, als für ein Mädchen in ihrem Alter normal ist.«
»Vielleicht aus gutem Grund?«
Mit ausdruckslosem Gesicht sah sie mich an, dann setzte sie die Teetasse entschlossen ab. »Ich möchte, dass Sie jetzt gehen. Auf der Stelle.«
»Aber Mom!« Noemi klang verzweifelt.
»Er soll gehen«, wiederholte ihre Mutter mit fester Stimme. Es war ihr anzusehen, dass sie es ernst meinte. Widerwillig erhob ich mich.
»Wie Sie meinen. Aber ich komme wieder, darauf müssen Sie sich gefasst machen. Dieser Blumenstrauß gibt mir zu denken.«
»Denken Sie, was Sie wollen. Von mir erfahren Sie nichts mehr. Und sollten Sie hier je wieder auftauchen …«
Auf dem Weg zur Diele blieb mein Blick an einem mit Fotorahmen vollgestellten Sideboard hängen. Die Winters vor einem protzig geschmückten Weihnachtsbaum. Wie lose zusammengebundene Luftballons, die in verschiedene Richtungen
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