Familienpoker: Vijay Kumars vierter Fall (German Edition)
spät in der Nacht das Kind in die Arme legte und sagte, dass das Mädchen Noemi heiße, weinte ich vor Glück.«
»Sie haben ihre Tochter doch adoptiert?«
Frau Winters Blick wanderte besorgt zu Noemi. »Nicht offiziell. Die Mutter Oberin hat die Geburtsurkunde gefälscht und meinen Namen sowie den meines Mannes eingetragen. So sah es aus, als wäre sie mein eigenes Kind, und ich wäre bei der Einreise in die Schweiz problemlos durch die Kontrolle gekommen.«
»Wie viel hat das gekostet?«
»Viel. Ich hatte ja damals kaum eigenes Geld, doch die Mutter Oberin half mir, gefälschte Rechnungen für die Konsultationen beim Arzt und den langen Spitalaufenthalt zusammenzustellen. Mein Mann hat dann alles bezahlt.«
»Du hast mich gekauft?« Noemi fuhr hoch und schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund.
»Noemi, es tut mir so leid, aber ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Hans-Rudolf wollte so sehr ein Kind! Verstehst du?«, flehte Irene Winter ihre Tochter an. »An meinen Gefühlen für dich ändert das überhaupt nichts.«
Noemi starrte auf die Tischplatte. »Er hat es doch gemerkt«, sagte sie nach einer Weile leise. »Oder zumindest gespürt. Er hat mich nie als seine Tochter akzeptiert.«
»Aber ich! Ich liebe dich wie mein eigenes Kind!« Frau Winter versuchte, den Arm um Noemi legen, doch diese entwand sich ihr und rückte ein Stück weg.
»Und wer war meine richtige Mutter? Die, die im Spital gestorben ist?«
»Ich weiß es nicht, Noemi. Ich habe nie nach ihr gefragt.«
»Wieso nicht?«
»Ich war so glücklich, dass du bei uns warst. Dass wir dank dir zu einer richtigen kleinen Familie wurden. Ich wollte nicht zurückblicken und habe jahrelang dieses Geheimnis mit mir herumgetragen. Und jetzt ist es doch herausgekommen und ich sollte mich eigentlich erleichtert fühlen. Aber ich tue es nicht.«
Irene Winters Lippen zuckten verdächtig. »Weißt du, welche Angst du mir eingejagt hast, als du damals plötzlich behauptet hast, du wärst nicht unsere Tochter? Du würdest es spüren, hast du gesagt. Ich hatte gehofft, dass dir die Psychologin diese Idee ausreden würde und alles wieder ins Lot käme. Doch als du danach überhaupt nicht mehr davon gesprochen hast, wusste ich, dass nichts in Ordnung war. Ich hatte vor Panik schlaflose Nächte, und die Furcht, dass mein Geheimnis entdeckt werden könnte, wurde zu meiner ständigen Begleiterin. Aber am Ende holt einen die Vergangenheit immer ein, nicht wahr?«
Noemi erhob sich und schritt im Wohnzimmer auf und ab, unruhig wie ein Raubtier im Zoo, dem das Gehege zu eng geworden ist. Schließlich blieb sie am Fenster stehen und sah in Gedanken versunken hinunter auf den Zürichsee. Jetzt erst bemerkte ich die Stille, die das große Haus erfüllte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit drehte sich das Mädchen um: »Was sagen wir jetzt Hans-Rudolf?«
»Dein Vater darf nie von diesem Gespräch erfahren! Das muss unter allen Umständen unter uns bleiben, hörst du?« Beunruhigt suchte Frau Winter Noemis Blick, doch diese war gedanklich schon einen Schritt weiter.
»Diese Frau muss doch auch einen Mann gehabt haben. Meinen richtigen Vater. Vielleicht gibt es auch Geschwister?« Sie dachte kurz nach und ihre Miene erhellte sich. »Das wäre ja voll krass! Eine coole Schwester vielleicht? Das könnte man sicher herausfinden …« Sie schaute mich prüfend an.
Unauffällig versuchte ich abzuwinken, doch sie hatte sich bereits entschieden.
»Gut, die Sache bleibt unter uns, Irene, versprochen«, beschwichtigte sie Frau Winter, die mit jedem Satz Noemis nervöser auf dem Sofa herumgerutscht war und jetzt erleichtert aufatmete.
»Unter einer Bedingung: Vijay Kumar fährt nach Spanien und sucht meine richtige Familie.«
Ich traf ein paar Minuten zu früh am Stauffacher ein und vertrieb mir die Zeit, indem ich mir die Auslage des Schuhgeschäfts gleich neben der Tramhaltestation anguckte. Meine Gedanken allerdings kreisten immer noch um Noemi und ihre ungewöhnliche Geschichte. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich Irene Winter verachten oder bemitleiden sollte. Die Emanzipationsbewegung schien sie jedenfalls nicht mitbekommen zu haben, stattdessen ließ sie sich auf ewige Fünfundzwanzig straffen und kaufte nebenbei ein Kind, nur damit ihr Mann sie nicht verließ. Alice Schwarzer hätte aufgejault.
Mit den Schönheitsoperationen stand die Winter zwar nicht allein da, solche Eingriffe wurden mittlerweile beiläufiger abgewickelt als der jährliche
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