Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen
half beim Putzen und Bügeln, kümmerte mich um meine kleine Schwester, holte sie vom Kindergarten ab, spielte mit ihr, machte brav meine Hausaufgaben. Beide Eltern waren berufstätig, und ich wurde so erzogen, dass nun mal jeder in der Familie dazu beizutragen hat, dass das Familienleben funktioniert. Und ich akzeptierte das auch. Braves Mädchen eben. Für mich war das selbstverständlich. Während meine Freundinnen sich nachmittags verabredeten, musste ich fast immer absagen. Ich musste mich ja um meine kleine Schwester kümmern. Ich funktionierte. Und brach nie aus.
Auch in der Schule war ich leistungsmäßig immer ganz vorne dabei. Schon in der Grundschule brachte ich die Einsen mit nach Hause. Und hatte ich auf dem Zeugnis hier und da mal eine Zwei, war ich enttäuscht. Zu gern hätte ich meiner Mutter ein reines Einser-Zeugnis präsentiert. Einmal hatte ich eine Vier in Mathe. Ich hatte keinerlei Zugang zur Multiplikation, verstand das Prinzip dahinter einfach nicht. Wie konnte zwei mal drei sechs sein, wenn doch zwei plus drei fünf war? Meine Mutter übte abendelang das kleine Einmaleins mit mir, doch ich tat nur so, als würde ich es kapieren. Das Resultat: Eine Vier in der Mathearbeit. Ich schämte mich unendlich. Als ich die Vier meiner Mutter zeigte, schallerte es. Ich bekam meine erste und letzte und damit einzige Ohrfeige meines Lebens. Meine Mutter muss wohl gedacht haben, sie hätte ein besonders dummes Kind. Vielleicht konnte meine Mutter auch gar nicht anders reagieren. Sie wurde genauso streng erzogen, hatte immer zu gehorchen und sehr gute schulische Leistungen abzuliefern. Sie hatte es nicht anders gelernt. Und vielleicht würde sie sich auch ihren Eltern gegenüber schämen, wenn sie ein Kind hätte, das schlecht in der Schule war. Dann hieße es, dass sie versagt hätte. Irgendwann hatte ich den Dreh mit Mathe raus, und ich platzte fast vor Stolz, als ich meiner Mutter im Zeugnis eine Eins präsentieren konnte.
Besondere Anerkennung für meine sehr guten schulischen Leistungen oder dafür, dass ich im Haushalt so viel mit anpackte, bekam ich nie. Es war schlichtweg normal. Es war selbstverständlich. Magdalena funktionierte tadellos. Beschwerte sich nie. Ein Traum von einer Tochter. Während andere Kinder stolz vorrechneten, wie viel zusätzliches Taschengeld sie für jede Eins und Zwei und oft sogar noch für eine Drei bekommen würden, rechnete ich stumm nach, was ich schon alles hätte verdienen können. Aber meine guten Noten waren nicht belohnenswert. Sie wurden einfach erwartet. Es war die Normalität und der Standard in unserer Familie. Etwas anderes kam einfach nicht in Frage.
Genauso war es selbstverständlich, dass ich ein Einser-Abitur machen würde. Man erwartete kein 1.0, für so genial hielt man mich dann doch nicht. Aber unter 1,5 sollte es schon sein. Natürlich war ich mittlerweile so gepolt, dass ich selbst den Anspruch an mich hatte, leistungsmäßig ganz vorne mitzumischen. Ich selbst hätte mich mit einem Durchschnitts-Abi auch nicht zufrieden gegeben. Zudem hatte ich mir einen Traum-Studiengang mit einem extrem hohen Numerus-Clausus ausgesucht, mit nur 35 neu zugelassenen Studenten pro Semester. Ich musste einfach gut sein, um angenommen zu werden. Ich schaffte mein Abitur mit 1,3 und war sehr stolz darauf. Auch den Studienplatz konnte ich mir damit ergattern. Ich wurde also sozusagen belohnt.
Meine Eltern klopften mir auf die Schulter. „Was anderes hätten wir auch gar nicht von dir erwartet,“ hieß es dann. Zur Feier meines sehr guten Abiturs gingen wir schick essen. Eines der teuersten und besten Restaurants der Stadt sollte es sein. Und während meine Mitschüler zum Abitur fette Bausparverträge, Schecks, Autos und Urlaubsreisen geschenkt bekamen, musste ich fast lachen, als ich mein Geschenk in den Händen hielt. Meine Großeltern, aus der ehemaligen DDR kommend, überreichten mir feierlich und mit erwartungsvoller und bedeutsamer Miene einen Besteck-Kasten. „Den haben wir für dich in der DDR gekauft als du vier Jahre alt warst.“ Ein DDR-Besteck-Kasten. Das hatte ich mir schon immer gewünscht. Es mag sein, dass so etwas vor 20 Jahren viel Wert war und eine große Bedeutung hatte, zumal die Planwirtschaft der DDR dazu führte, dass man nie sicher sein konnte, das zu bekommen, was man gerade brauchte. Und es war auch irgendwie rührig, dass meine Großeltern das Ding 15 Jahre aufbewahrten, um es mir dann zu schenken. Aber 10 Jahre nach der Wende kam
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