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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henriette Frädrich
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meines Vaters ihr gegenüber normal. Meine Tochter, ihre Enkelin, versuchte mal, die Lage zu erforschen, in dem sie ein verlängertes Wochenende mit ihr allein verbrachte. Meine Tochter versuchte, herauszufinden, wie sehr meine Mutter unter meinem Vater litt. Doch sie kam wieder mit den Worten „Zwischen die beiden passt kein Blatt. Für Oma ist das Verhalten von Opa völlig legitim. Nicht ein Wort der Beschwerde kam über ihre Lippen. Als ich sie darauf ansprach, dass Opa sie doch ganz schön übel behandeln würde, sah sie mich völlig verwundert an und sagte nur `Nee, wieso das denn?´“. Danach gab meine Tochter es auf, Partei für ihre Oma ergreifen und sie beschützen zu wollen. Alle impulsiven und allzu oft ungerechtfertigten und sinnlosen Ausraster meines Vaters perlten an ihr ab wie Schmutz an Lotus. Wie es innerlich in ihr aussah, weiß allerdings niemand.
    Auf der anderen Seite frage ich mich, ob es nicht so auch ein ziemlich bequemes Leben ist? Sein Leben komplett nach einem Mann zu richten. Sie selbst beschreibt sich zwar immer als selbständige Frau, sie hatte auch immer einen Beruf, dennoch war sie stets an der Seite meines Vaters, der viel im Ausland zu tun hatte. Sie reiste mit ihm und nahm dort die über sein Unternehmen organisierten Jobs für sie an. Sie richtete ihr Leben komplett nach seinem aus. Es scheint mir heute, sie ist ihm hörig. Ich habe das nie verstanden, aber vielleicht war es ja ihre Normalität. Unabdingbarer Gehorsam dem Mann gegenüber.
    Über all die Konflikte haben wir nie gesprochen. Auch innerhalb unserer Familie galt bislang das ungeschriebene Gesetz, bloß kein Theater zu machen. Es stumm über uns ergehen zu lassen. Und vielleicht ist hier das Muster. Wir verhalten uns alle wie meine Mutter. Vorauseilender Gehorsam und duckmäuserisch. Wir lassen uns alles von ihm gefallen. Er kennt es nicht anders. Und wir kennen das nicht anders.
    Die Absurdität des ganzen erreichte ihren Höhepunkt, als ich meine Eltern vor kurzem besuchte. Beide sind mittlerweile Mitte 80, ich bin Anfang 50. Für ihr Alter sind sie noch gut beisammen, aber natürlich spielt der Körper nicht mehr so mit. Schmerzen und Zipperlein überall, jeder Schritt ist anstrengend und wacklig. Dennoch rühmen sie sich ihrer Unabhängigkeit und schlagen jeden Vorschlag, vielleicht in eine Seniorenresidenz oder zumindest in die Nähe von mir oder meiner Tochter zu ziehen, rigoros in den Wind. Sie wohnen mitten auf dem Land, mitten in der Pampa. Jede Besorgung muss mit dem Auto erledigt werden. Und wer 80jährige schon mal beim Autofahren erlebt hat, der weiß, das ist kein Spaß. Sie selbst sehen das natürlich nicht so. Wie immer gilt auch hier: Sie machen alles richtig, die anderen auf der Straße sind die Doofen und die Rüpel und die Rowdys.
    Ich besuchte meine Eltern, und hatte danach einen Geschäftstermin in einer größeren Stadt, ca. 75 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. Ich muss dazu sagen, ich bin ständig unterwegs, nicht nur in Deutschland, auch weltweit. Zudem habe ich, wie fast jeder Autofahrer, ein Navigationsgerät, welches ich zu bedienen natürlich mächtig bin. Des Weiteren hätte ich zur Not Google-Maps in meinem Smartphone. Und zur allergrößten Not, sollte ich mich wirklich mal verfahren, kann ich jemanden fragen. Ich traue mir also zu, den Weg zu finden.  
    Doch mein Vater war sich da alles andere als sicher. Als ich aufstand, stand er schon fertig angezogen vor mir und eröffnete mir, welchen Weg ich zu fahren habe. Er hatte eine alte Straßenkarte in der Hand und zerrte mich grob an den großen Wohnzimmertisch, wo er mir auf der Karte meinen Weg zeigte. „Gudrun, schau mal, ich habe mir das hier mal auf der Karte angeschaut, das ist der beste Weg für dich. Ich bin die Strecke heute morgen auch schon einmal abgefahren, und ich werde dir nachher vorfahren, damit du dich nicht verfährst, es sind wirklich sehr komplexe Verhältnisse auf der Straße.“
    Wie bitte?! Ich dachte, ich hätte mich verhört. Das war ein schlechter Witz. Mein greiser Vater, der mit seinen tattrigen 84 Jahren besser jede Fahrt im eigenen Auto vermeidet, weil er selbst ein Verkehrshindernis darstellt, ist eine läppische Strecke von 75 Kilometern hin und zurück für mich abgefahren, damit ich den Weg finde? Und zu allem Übel will er auch noch gleich vor mir herfahren?! Ich war völlig perplex und spürte auch gleichzeitig eine riesige Wut in mir aufsteigen. Traute mir mein Vater allen Ernstes so wenig zu?

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