Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henriette Frädrich
Vom Netzwerk:
Immer noch, nach all den Jahren? Was muss er bloß für ein Bild von mir haben? Genervt sagte ich ihm, (genervt darf man bei ihm natürlich nie sein, großer Fauxpas!), dass ich den Weg finden werde, und ich hätte außerdem ein Navi, und dass es völliger Schwachsinn sei, dass er die Strecke abgefahren ist und dass er vor mir her fahren will. Dann rastete er völlig aus: „Du weißt alles besser, ja?! Ich will dir hier helfen, aber wenn du meinst, du brauchst keine Hilfe, bitteschön, wirst schon sehen, was du von deiner Großspurigkeit hast!“. Dann knüllte er die Karte zusammen, wobei er diese komplett zerstörte, schmiss sie in den Müll, brauste ins Nebenzimmer ab und strafte mich den Rest der Zeit bis zu meiner Abreise mit Verachtung.
    Und ich, ich war stolz, mit 51 Jahren endlich widersprochen zu haben. Wenngleich mich seine impulsive und völlig unangemessene Reaktion schon wieder ganz kirre machte. Schlechtes Gewissen und so, und ich frage mich, ob ich nicht doch einfach hätte die Klappe halten und diesen Quatsch über mich ergehen lassen sollen. Und da hatte er mich wieder.

Guck mal, ein Junge im Kleid!
    Die Hässliche
    Nadine, 27, Architektin
     
    Wie selbstbestimmt dürfen Kinder eigentlich sein? Ich hatte das Gefühl, als Kind so gut wie nie meinen Willen zu bekommen. Es wurde das gemacht, was Mama oder Papa sagten, und basta. Das ging soweit, dass ich mich schon gar nicht mehr traute, meine Wünsche zu äußern. So träumte ich, wie vielleicht jedes kleine Mädchen, von einem Leben als Prinzessin. Ich bewunderte Ballett-Tänzerinnen und Eiskunstläuferinnen, saß gebannt vorm Fernseher, wenn Ballett oder Eiskunstlauf kam. Danach lief ich wie eine Ballerina, mit abgespreizten Füßen und auf Zehenspitzen, und die Hände mit eingeknicktem Mittelfinger, damit es so aussah, als würde ich eine Ballerina sein. Ich sah wahrscheinlich lächerlich aus. Dennoch glaubte ich mir selbst. Ich war eine Ballerina. Ich malte krakelige Bilder von Tänzerinnen und von Katharina Witt, wie sie in ihrem berühmten Carmen-Outfit (das rote, mit dem tiefen transparenten Ausschnitt) bei den olympischen Spielen 1988 auf dem Siegertreppchen ganz oben stand. Katharina Witt war für mich die schönste Frau der Welt. Sie war mein Idol. Ich wollte so sein für sie. Ich liebte sie abgöttisch. Und noch heute zieht es irgendwie sehnsüchtig in meinem Bauch, wenn ich sie in einer Talkshow sitzen sehe. Als wäre ich verliebt in sie. 
    Es gab andere kleine Mädchen im Kindergarten, die hatten Ballett-Unterricht und gingen zum Eislauf-Training. Ich war so neidisch auf sie. Sie waren auch alle so hübsch. Ich empfand mich nie als besonders hübsch. Besonders von einem Mädchen konnte ich meinen Blick nie abwenden. Sie sah aus wie eine Puppe. Lange braune Haare, große Kulleraugen, makellos. Und wenn ihre Mama sie zum Ballett abholte, hatte sie schon ihren rosa Turnanzug an, die weißen Tanzschläppchen dazu, und ihre Haare zum Dutt gebunden. Wie gern hätte ich mit ihr getauscht.  Ein anderes Mädchen tanzte in einer berühmten Kinderrevue der Stadt, in glitzernden bunten Kostümen wirbelte sie als kleiner Sonnenstrahl oder kleiner Frosch über die Bühne. Ich war so neidisch. Ich hätte auch so gern dort mitgemacht.
    Aber ich habe mich nie getraut, das zu äußern. Ich habe nie den Mund aufgemacht und zu meinen Eltern gesagt: „Mama, ich will auch zum Ballett.“ Oder „Mama, ich will auch Eiskunstlauf lernen.“ Statt dessen beobachtete ich still und neidisch die Mädchen, die das durften. Warum ich mich nie getraut hatte, das laut auszusprechen, weiß ich bis heute nicht. Ich hatte es vielleicht nie gelernt, dass es okay ist, eigene Wünsche und Bedürfnisse zu haben, und diese auch äußern zu dürfen. Ich machte statt dessen das, was man mir anbot. Ohne Widerrede. Ich ging zum Schwimmtraining. Weil meine Mutter das mal vorgeschlagen hatte. Es war okay. Aber es war nicht mein Traum. Und irgendwie lebten wir damals auch so, dass Träume zu verwirklichen absurd war. Man musste was anständiges machen und anständig  und fleißig lernen. Was sollte man da an der Ballettstange oder im Glitzerfummel auf dem Eis? Meine Wünsche zählten nicht. Das wusste ich. Und so hielt ich lieber meinen Mund. Vielleicht hatte ich auch Angst davor, ausgelacht zu werden. „Du und Primaballerina?!“ oder „Du und ´ne Eisprinzessin?!“. Ich empfand mich selbst als nicht schön genug, so dass ich sicher war, ich würde sowieso nur Spott und Hohn

Weitere Kostenlose Bücher