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Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen

Titel: Familienscheiße: Wir hassen sie, wir lieben sie - Geschichten über die, die uns am nächsten stehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henriette Frädrich
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ernten.
    Auch was mein Aussehen anging, hatte ich kaum Mitsprache-Recht. Ich fand die anderen Mädchen immer viel schöner. Wenn ich Bilder von damals anschaue, dann muss ich meinem verunsicherten, sechsjährigen Ich sagen, dass ich bildhübsch war. Ich hatte schöne lange, dicke Haare. Und ich fand auch damals Mädchen mit langen Haaren per se viel schöner als Mädchen mit kurzen Haaren. Eigentlich fand ich kurze Haare sogar richtig grauenhaft. Und dann auch noch mit Brille. Unvorstellbar für mich.
    Kurz bevor ich eingeschult wurde, kündigte meine Mutter an, dass wir zum Friseur gehen werden, um meine Haare abzuschneiden. Ich war entsetzt und fing an zu weinen. „Ständig dieses Theater mit dem Haare waschen, und dann immer der Läuse-Alarm im Kindergarten, und dass ich dir jeden Morgen deine Haare kämmen muss und einen Zopf machen muss, das ist unpraktisch. Kurze Haare sind viel praktischer.“ Mir sackte das Herz in die Hose. Ich und kurze Haare? Dann würde ich ja zu den absolut hässlichen Mädchen gehören, die keiner leiden kann. Ich hoffte, dass meine Mutter das Vorhaben vergessen würde. Was sie aber nicht tat. Ein paar Tage später zerrte sie mich in den Friseurladen um die Ecke. Ich zog an ihr, sagte nein, weigerte mich, wollte nicht in den Laden – und das war schon ziemlich viel Widerstand und Revolution für mich. Aber wenn es um meine Haare ging, spürte ich, dass ich diese nicht einfach kampflos aufgeben werde. Ich hatte ein bisschen Mut geschöpft. Aber es nützte nichts. Meine Mutter war gnadenlos.
    Warum zählt die Meinung eines Kindes so wenig? Warum lässt man es nicht so aussehen, wie es will? Indem sie mir meine langen Haare abschneiden ließ, nahm sie mir alles, was mir in meinem Mädchen-Dasein wichtig war. Ich hätte sogar noch damit leben können, wenn die Haare etwas kürzer gewesen wären, einen Bob oder so was in der Art. Ich hätte mich mit einer Frisur anfreunden können, bei der man mich noch als Mädchen erkannt hätte. Aber meine Mutter veranlasste das Schlimmste überhaupt. Ich bekam einen richtigen Kurzhaarschnitt. Ich sah aus wie ein Junge. Mein persönlicher Alptraum. Und ich hasste meine Mutter dafür. Sie hatte keine Ahnung, was sie damit bei mir anrichtete. Ich war sowieso immer schüchtern und verunsichert. Und jetzt, mit den neuen Haaren, wurde es noch schlimmer. Weil ich den ganzen Tag nichts anderes denken konnte als „Oh Gott, ich sehe aus wie ein Junge. Alle denken, ich bin ein Junge.“. Was natürlich Quatsch war. Und selbst wenn, wäre es völlig egal gewesen. Aber so viel Selbstbewusstsein kann man einem kleinen schüchternen Mädchen gar nicht eintrichtern, dass es sich entspannt. Mir war nur eins klar: Ich bin jetzt hässlich. Und ich schämte mich noch mehr den lieben langen Tag für mich selbst.
    Den Rest gab mir dann noch der Tag meiner Einschulung. Alle putzten sich fein heraus. Und ich durfte endlich das wunderschöne Kleid anziehen, das meine Mutter vor etlicher Zeit extra für diesen Tag ausgesucht und gekauft hatte. Dazu die schicken Schuhe. Doch als ich mich im Spiegel sah, war ich einfach nur traurig. So lange hatte ich mich darauf gefreut, endlich in dieses Kleid schlüpfen zu dürfen. Ich wollte wunderschön aussehen. Aber in meinen Augen passte das einfach nicht zusammen. Da stand ein Junge vor mir, der ein Kleid trug. Und ich schämte mich. Und die Vorstellung, jetzt so in die Schule zu gehen, alles neu, neue Kinder, verursachte Panik bei mir. Die würden mich alle auslachen! Erstaunlich, was in so einem kleinen Kopf alles vorgeht, und welche Ängste so einen kleinen Kopf plagen.
    Als wir in der Schule ankamen, wurden wir Kinder gemäß den neuen Klassen aufgeteilt. Ich stand in der Ecke der 1b und wartete dort mit den anderen Kindern. Einige der Kinder kannten sich schon und lachten und tuschelten. Ich kannte niemanden. Meine Eltern winkten mir ermutigend und aufmunternd zu, ich nickte nur verschüchtert. Und dann passierte das, wovor ich solche Angst hatte. Ein Junge zeigte auf mich und sagte das Unsägliche zu seinem Freund: „Guck mal, ein Junge im Kleid!“. Dann lachten sie prustend los. Ich tat so, als hätte ich es nicht gehört. Aber in dem Moment hasste ich meine Mutter wie noch nie zuvor. Wie konnte sie mir das antun? Ich wollte nur noch verschwinden.
    Natürlich fand ich auch mit kurzen Haaren Freundinnen in der Schule, und natürlich war alles halb so wild. Dennoch bewunderte ich die Mädchen mit den langen Haaren still. Ich

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