Familientherapie ohne Familie
der sich an der Pathologie orientiert. Falsches Lob ist schlimmer als ungerechtfertigte Kritik. Lob muss gut abgewogen sein, damit ein Patient es auch akzeptieren kann. Es muss seiner inneren Landkarte entsprechen.
Dabei können auch positive Umdeutungen mit einfließen. Statt auf die »Depressionen« einzugehen, wird zum Beispiel die Fähigkeit des Patienten hervorgehoben, die reiche Bandbreite der menschlichen Gefühle empfinden zu können, zu denen eben auch die Phasen der Traurigkeit gehören.
Keinesfalls kritisiert der Therapeut oder übernimmt die abwertenden Kommentare des Patienten.
Wie mehrfach erwähnt, ist das kein therapeutischer Trick, sondern eine Folge der Einsicht in die gegenseitige Bedingtheit von Verhaltensweisen, die nicht leicht geändert werden können. Übungsweise kann sich der Therapeut die Frage stellen: »Wie kommt es denn, dass die Dinge nicht viel schlechter sind?« Fast immer ist eine schlimmere Lage denkbar und möglich. Erst dann kann erkannt werden, welche Fähigkeiten dem Patienten bisher zu Hilfe kamen und welche Anstrengungen der Patient selbst bisher unternommen hat, um die Beschwerden auf dem Stand zu halten, auf dem sie zurzeit sind.
So kam eine 50 Jahre alte Patientin wegen eines enormen Übergewichts in Behandlung. Sie war nur knapp 1,60 Meter groß, wog aber über 120 Kilogramm. Zahlreiche Begleiterkrankungen des Übergewichts machten ihr das Leben schwer. Sie litt unter einer nicht einstellbaren Hypertonie, die Gelenke zeigten vorzeitige Verschleißerscheinungen, die Gallensteine verursachten gelegentliche Koliken. Darüber hinaus hatte sie bereits vor Jahren einen Hirnschlag erlitten, der einen Arm gelähmt hatte. Sie erzählte, dass sie »schon immer« dick gewesen sei, lediglich einmal habe sie es auf 80 Kilogramm gebracht, dann aber gleich wieder zugenommen. Auch ihr Mann und die Kinder seien dick. Alle Versuche, in den letzten Jahren abzunehmen, seien fehlgeschlagen. Ihr Gewicht stehe mit minimalen Schwankungen bei 120 Kilogramm.
Als die Patientin vor mir saß, war mein erster Impuls, sie zu beschwören, sie müsse abnehmen, da sich weitere Krankheiten abzeichnen würden. Ich wollte der Patientin den drohenden zweiten Schlaganfall schildern und sie mit dem Leben im Rollstuhl schrecken.
Solche Sätze hatte die Patientin schon oft gehört. Der Appell, abzunehmen, wurde von zahlreichen Ärzten erfolglos an sie herangetragen. Drohungen vor weiteren Krankheiten oder auch die tatsächlich eingetretenen Krankheiten hatten keine Auswirkung auf das Gewicht gehabt.
In der beschriebenen Weise sondierte ich daher alle Ausnahmen. Ich erhielt folgendes Bild: Es war ihr gelungen, tatsächlich einmal mithilfe einer Nulldiät stark abzunehmen und das Gewicht mithilfe der Familie über zwei Jahre zu halten. Dabei hatte sie vor allem die Tochter unterstützt, die in der gleichen Zeit selbst ihr Übergewicht reduziert hatte. Auch einige andere Ansätze hatten für einige Zeit zu einer Reduktion des Gewichts geführt. Ich deutete also die Situation folgendermaßen um:
»Sie wiegen zu viel, das brauche ich nicht länger auszuführen. Sie haben auch einige Probleme mit dem Übergewicht. Allerdings sehe ich gleichfalls einige sehr positive Dinge, auf die Sie aufbauen können: Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass Sie Ihr Gewicht in den letzten Jahren fast ohne Schwankungen gehalten haben. Das sagt mir zweierlei. Erstens haben Sie ein sehr gutes Gefühl für die Menge, die Sie essen müssen, um auf demselben
Gewicht zu bleiben. Das ist nicht selbstverständlich. Viele Übergewichtige schwanken gewichtsmäßig sehr stark, ohne zu wissen, warum. Zweitens können Sie die Menge, die Sie essen, sehr gut kontrollieren! Das mag für Sie überraschend sein. Aber Sie hätten genauso gut weiter zunehmen können. Es gibt für das Körpergewicht keine automatische Obergrenze. Ich kenne Menschen, die sehr viel mehr wiegen als Sie und weiter zunehmen. Nun zum körperlichen Befinden: Sie haben einige Beschwerden. Vor allem die Lähmung Ihres Armes ist wirklich hinderlich. Auf der anderen Seite bin ich überrascht von der Stabilität Ihres Körpers. Die meisten Gelenke haben die vermehrte Belastung ausgezeichnet toleriert, auch die inneren Organe zeigen – bis auf den Gallenstein – keine Anzeichen von Krankheit. Selbst die Laboruntersuchung verlief vergleichsweise sehr gut. Es kann keine Frage sein: Sie sollten sich größere Leichtigkeit und Beweglichkeit schenken. Selbst in dieser Hinsicht haben
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