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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Weiss
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Kind ist im Spiel mit seiner Eisenbahn beschäftigt. Teilweise spielt es mit der Eisenbahn, teilweise ist es auch die Eisenbahn selbst und läuft schnaufend durch die Wohnung. Die Mutter, die das Kind baden möchte, ruft daher mehrfach vergebens. Erfolgreich ist sie erst, als sie das Badezimmer zum Bahnhof erklärt und die »Lokomotive« zum Einlaufen auffordert. Innerhalb von Sekunden steht das Kind fröhlich und laut schnaufend neben ihr.
    Das Umdeuten, so wie es uns hier beschäftigen soll, ist eine alternative Interpretation der Wirklichkeit, die genauso gut zutrifft wie die ursprünglichen Auffassungen. Das klassische, wohlbekannte Beispiel ist das halb volle oder halb leere Glas Wasser.
    Alle Therapien beginnen bereits mit einer Umdeutung. Wenn ein Mensch sich entschließt, zu einem Psychotherapeuten zu gehen, deutet er ein bisher als »normal« angesehenes Verhalten in ein krankhaftes und behandlungswürdiges um. Gleichzeitig nimmt er an, dass er sich selbst nicht helfen kann. Meist werden sich Therapeut und Patient schnell einigen, dass diese Annahme durchaus korrekt ist, ja noch schlimmer, der Patient noch viel kränker ist, ohne es zu wissen.
    In geduldiger Feinarbeit wird der Fachmann dem Patienten zeigen, wie seine Ängste nicht erst seit dem ersten Angstanfall begründet sind: Der Hund sei wirklich unschuldig an der Angst, auch wenn er etwas groß gewesen sein mag. Der wirkliche Grund liege tiefer, da müsse man schon bis in die Kindheit des Patienten zurückgreifen. Letztendlich sei es die fundamentale Unsicherheit, die er als kleines Kind in der Ungeborgenheit und dem Ausgeliefertsein zwischen zwei zerstrittenen Elternteilen erlebt habe.

    Solch eine Interpretation der Wirklichkeit kann durchaus schlüssig sein, sie setzt gleichfalls einen neuen Rahmen für ein altes Problem. Die Implikation der Interpretation ist aber: Was so tief wurzelt, kann nicht leicht verändert werden. (Allerdings ist die Entlastung von Schuld ein Vorteil dieser Interpretation.)
    Schon während des Beginns eines Erstinterviews findet also eine bestimmte Rahmenfestsetzung statt, die große Konsequenzen für die gesamte Therapie hat. Meist wird der Therapeut den Rahmen akzeptieren oder noch verstärken, mit dem der Patient zu ihm kommt. Falls aber die Fragen auf die Fähigkeiten eines Patienten eingehen, wird eine neue Situation entstehen: Die innere Landkarte wird sich von einem »Ichbin-so-ziemlich-gänzlich-missraten« zu einem »Das-meiste-inmir-ist-in-Ordnung« verändern.
    Es zählt für mich zu den eindrücklichsten Erlebnissen, zu sehen, in welchem Ausmaß solche Umdeutungen in kürzester Zeit einen Wandel verursachen.
     
    So kam eine junge Frau in eine Klinikambulanz mit dem festen Vorsatz, eine langfristige Therapie anzutreten, da sie immer wieder unter plötzlichen Schwankungen ihres Selbstvertrauens litt, die bis zu Selbstmordgedanken gingen. Real gefährdet schien sie dem Therapeuten jedoch nicht zu sein. Während des Gesprächs lenkte der Therapeut seine Aufmerksamkeit lediglich auf ihre bisherigen Fähigkeiten, verschiedene schwierige Situationen erfolgreich zu bewältigen. Der Therapeut gab zum Schluss eine sehr milde, positive Konnotation der Beschwerden und vereinbarte einen möglichen Termin für die stationäre Aufnahme.
    Einige Tage später meldete sich die Patientin telefonisch: Das Gespräch hätte ihr ungeheuer gutgetan. Sie würde sich sehr wohlfühlen und sei mit dem Therapeuten aber nicht mehr einer Meinung. Im Grunde bezweifle sie, ob sie wirklich so große Probleme habe, oder ob das nicht zum Leben ganz normal dazugehöre. Sie wolle deswegen nicht stationär kommen, eigentlich wolle sie auch keine Therapie, sondern sich lieber mal wieder melden, falls es nötig sei.

    Der Therapeut war mit der Patientin einer Meinung und vereinbarte eine gelegentliche Kontaktaufnahme.
     
    In diesem Fall hat eine Patientin den erwähnten Schritt wieder zurückgenommen, und was »Pathologie« war, wurde wieder zum »Alltagsproblem«.
    An dieser Stelle sei noch eine Umdeutung erwähnt, die zu Beginn einer Behandlung oder im Verlauf der ersten Sitzung ermutigend wirken kann. Für verschlossene Patienten kann es hilfreich sein, wenn sie vom Therapeuten für die Offenheit gelobt werden, mit der sie über etwas gesprochen haben, das ihnen nicht leichtgefallen ist. Bei ängstlichen Patienten wird man die Stärke anerkennen, die darin besteht, seine Schwächen zu zeigen und sie nicht versteckt halten zu müssen. 20
    Zwei

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