Familientherapie ohne Familie
Verschreibungen. Wie bereits erwähnt, folgt sie häufig einer positiven Konnotation und spezifiziert die positive Konnotation noch weiter.
Symptomverschreibungen in allen Varianten laufen immer darauf hinaus, einem Patienten das zu verschreiben, was er als störend und vor allem als nicht beeinflussbar erlebt. Ein Patient mit einer Depression erlebt es vor allem als quälend, seine Symptome nicht beeinflussen zu können. Wenn der Therapeut ihm nun verschreibt, sich in bestimmter Weise »depressiv« zu verhalten, so werden damit einige Implikationen gemacht:
1. Die Symptomatik wird aufgewertet – vor allem wenn eine vernünftige Begründung mitgeliefert wird. (»Sie sollten sich in der nächsten Zeit niedergeschlagen zeigen, weil Sie Ihrer Familie damit einen bestimmten Dienst erweisen.«)
2. Der Patient erlangt Kontrolle über ein Verhalten, das ihm bisher unkontrollierbar erschien. Die Kontrolle besteht nun darin, das Symptom bewusst zu zeigen.
3. Die Verschreibung eines Symptoms erzeugt eine charakteristische »Double-bind-Lage«. Durch die Aufforderung, ein spontanes Verhalten bewusst nachzuvollziehen, ist das spontane Verhalten in seinem natürlichen Ablauf so gestört, dass es überhaupt nicht mehr oder nicht mehr so wie ursprünglich gezeigt werden kann. Die Symptomverschreibung ist also die therapeutische Nutzung des »Sei-spontan«-Paradoxons.
Das zugrunde liegende Phänomen ist selbstverständlich keine Erfindung der systemischen Therapie, sondern seit Langem bekannt. In literarischer Form ist es beispielsweise bei Kleist beschrieben. In seinem Essay »Über das Marionettentheater« 24 schildert Kleist eine Situation, in der ein nicht genannter Beobachter sieht, wie ein junger Mann aus dem Bade steigt. Die Bewegung, mit der er das tut, erscheint dem Beobachter als der Ausdruck der göttlichen Harmonie schlechthin. Fasziniert von der Schönheit des Anblicks bittet er den jungen Mann, die Bewegung zu wiederholen. Doch zur Überraschung fällt die vorher perfekte Bewegung nun linkisch und gestelzt aus, und auch weitere Versuche bringen nur immer schlimmere Ergebnisse. Der junge Mann war, wie leicht zu erkennen ist, das Opfer des »Sei-spontan«-Paradoxons. Das gleiche Phänomen wird in unzähligen Situationen genutzt. Ein gewiefter Tennisspieler kann etwa seinem Gegenüber Komplimente machen, in welch natürlicher Weise heute seine Rückhandbälle kämen. Ob er sie ihm bitte noch einmal zeigen könnte...?
Im therapeutischen Bereich steht und fällt eine Symptomverschreibung immer mit der Begründung, mit der sie gegeben wird. Einem Patienten lediglich zu sagen: »Ihr Verhalten wird schon irgendeinen Sinn machen, deswegen machen Sie am besten noch mehr davon«, wird – bis auf einen Therapeutenwechsel – kaum irgendeine Veränderung bewirken. Gerade die Symptomverschreibung muss auf dem Boden des systemischen Verständnisses der Symptomatik stehen. Der Therapeut muss verstanden haben, wie die Dynamik in der Familie aussieht, in der sich die Mutter depressiv verhält. Im Interview muss also durch zirkuläre Fragen klar geworden sein, wie beispielsweise der Ehemann auf die Seufzer der Erschöpfung reagiert, was die Kinder machen, wenn die Mutter noch mittags im Bett liegt, was passieren würde, wenn die Mutter wieder gesund wäre usw. Mit diesen Informationen lässt sich dann eine ausgezeichnete Begründung geben, warum ein Verhalten nicht geändert, sondern im Gegenteil
bewusst fortgesetzt werden sollte. Dabei ist eine Begründung umso besser, je stärker sie die vorhandenen Informationen des Familienlebens berücksichtigt.
Zum Beispiel: Für die Patientin bedeutet ihre Depression, die ganze Aufmerksamkeit der Familie geschenkt zu bekommen, die sie sonst nie erhalten würde. Für den Mann bedeutet ihr Symptom die Sicherheit, dass seine Frau in dieser Situation sich nicht einen Liebhaber suchen wird. Solcherma ßen ausgeführt, wird eine Symptomverschreibung unmittelbar einleuchtend sein.
Eine andere Art der Begründung ist folgende: »In der kommenden Woche sollten Sie einmal nichts gegen Ihre Depression unternehmen, also auch nicht versuchen, dagegen anzukämpfen, damit wir einmal gemeinsam sehen können, wie schlimm es werden kann – sozusagen aus »diagnostischen Gründen«. 25
Die Symptomverschreibung kennt eine Reihe von Varianten. Einige sollen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aufgezählt werden.
Warnen vor der Veränderung
Bei Fragen nach den Folgen einer möglichen Besserung antworten
Weitere Kostenlose Bücher