Familientherapie ohne Familie
fast alle Patienten zuerst: »Dann wäre alles besser, dann ginge es mir gut.« Wenn ein Therapeut dann nachfragt, wird er oft feststellen, dass neben einigen positiven Folgen auch durchaus negative Aspekte des Wandels zu erkennen sind. Gerade die negativen Folgen des Wandels dürften ein Grund für die Stabilität des Symptoms sein. Um dennoch dem Patienten einen Wandel zu ermöglichen, kann der Therapeut selbst nach Alternativen suchen oder die negativen Folgen des Wandels so hervorheben, dass der Patient von sich aus Alternativen entwickeln wird.
Ein 25 Jahre alter Student war in stationäre Behandlung gekommen, da er mit seinem Studium der Maschinenbautechnik nicht mehr zurechtkam. Immer wenn er in einen Hörsaal sollte, überfiel
ihn eine panische Angst. Er konnte die Ansammlung von zahlreichen Menschen nicht mehr ertragen, ohne Schweißausbrüche und Durchfall zu bekommen. Für ihn selbst waren die Gründe dafür vollständig rätselhaft. Die Beschwerden führten zu einer weitgehenden Lähmung seiner an sich guten Leistungsfähigkeit. Erschwerend kam hinzu, dass sich die Ängste nach einer Weile auch in seinem Zimmer in der Universitätsstadt einstellten. Einige Wochen später zog er schließlich zu den Eltern zurück, wo er sich fast beschwerdefrei fühlte. Zu Hause lebte er wieder das Leben des Kindes, zwar mit innerem Groll über die unerwachsene Situation, doch ohne die Kraft, etwas daran ändern zu können.
Folgende Situation wurde durch zirkuläres Fragen deutlich: Der Vater war kurze Zeit zuvor aus dem Staatsdienst in den Ruhestand getreten. Die dominante Mutter war stets Hausfrau gewesen. Zwischen beiden Eltern hatte sich ein neues Gleichgewicht noch nicht eingestellt, vor allem hatte sich der Vater mit seiner Rolle als Pensionär noch nicht abgefunden. Er hatte vorher einigen Einfluss im Berufsleben ausüben können und war durch die Untätigkeit unterfordert. In dieser Situation half der Sohn beiden Elternteilen, sich nicht mit der neuen Lebenslage auseinandersetzen zu müssen, sondern die Illusion aufrechtzuerhalten, es sei noch alles so wie früher. Der Sohn litt zwar unter der beschämenden Lage, doch hatte sie für ihn noch einen weiteren Aspekt. Mit dem kommenden Studienabschluss wäre er beruflich einen Schritt weiter als der Vater gegangen. Verbunden mit der Pensionierung hätte er den Vater quasi doppelt überrundet. Für ihn, der noch nie offen mit dem Vater rivalisiert hatte, war das eine gleichermaßen verführerische wie gefürchtete Aussicht. Die Ängste und der »erzwungene« Rückzug nach Hause waren also ein Ausweg, um vor der inneren Auseinandersetzung zu flüchten. Nachdem der Therapeut eine Reihe von Interventionen versucht hatte und stets auf die gleiche Reaktion (»Ich will ja, aber ich kann nicht«) gestoßen war, gab er sich geschlagen:
»Ich habe lange nicht verstanden, warum Sie zu Hause bleiben, obwohl Sie immer wieder betonen, wie sehr Sie von dort weg möchten. Mittlerweile sehe ich, wie das alles zusammenhängt und warum Sie jetzt nichts ändern möchten oder können. Im Gegenteil, eine Änderung hätte für Sie und Ihre Familie zahlreiche Nachteile. Für die Eltern würde es bedeuten, sie müssten
sich mit der neuen Rolle des Altwerdens beschäftigen. Und Sie befürchten, die Eltern könnten dann vor einer großen Leere ihrer Beziehung stehen. Das verhindern Sie durch Ihre Anwesenheit zu Hause. Vor allem aber beenden Sie Ihr Studium nicht und brauchen deswegen auch nicht zu erleben, wie der Vater durch Ihre dann offenkundige geistige Potenz infrage gestellt wird. Auch in dieser Beziehung sind Sie sehr rücksichtsvoll. Schließlich brauchen Sie sich in der jetzigen Situation nicht mit den ganzen Fragen des Berufslebens auseinanderzusetzen. Nach dem Studienende kommen ja sehr schwierige und unvertraute Dinge auf Sie zu wie Arbeitssuche, regelmäßige Arbeitszeiten, ermüdende Arbeitsverrichtungen usw.«
Durch solche Interventionen wird bei den entsprechenden Patienten ein innerer Widerstand geweckt: »Will ich wirklich so viel für meine Eltern tun? Bin ich wirklich so schwach und rücksichtsvoll? Ist das Berufsleben wirklich so schrecklich?«
Von sich aus wird der Patient dann die andere Seite der Wirklichkeit erleben, die bewusst nicht angesprochen wurde: Seine Lust an dem erwachsenen Leben, seine Kraft, auch mit dem Vater zu rivalisieren, und die angenehmen Seiten des Geldverdienens.
Bei der Formulierung der Intervention darf selbstverständlich kein
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