Familientherapie ohne Familie
Varianten des Umdeutens werden nun im Folgenden noch dargestellt.
Das Umetikettieren 21
Beim Umetikettieren wird nicht der Rahmen für ein bestimmtes Verhalten geändert, sondern die Person selbst wird unter einem anderen Aspekt gesehen (anders etikettiert), sodass ihr Verhalten plötzlich in einem neuen Licht erscheint.
So kam ein Mann in Behandlung, der erhebliche Probleme mit seiner Frau hatte. Seit vielen Jahren litt er unter der zunehmenden nörgelnden Art seiner Frau, die – wie er selbst – Mitte 60 war. Nichts war ihr recht, dabei stand das in denkbarem Gegensatz zum eigenen Verhalten der Frau. Sie war nachlässig im Haushalt, kümmerte sich selbst um einfache Aufgaben kaum noch. Der Ehemann musste deswegen zunehmend mehr Funktionen übernehmen. Anfänglich hatte er sie freundlich gebeten, später attackierte er sie heftig, schließlich resignierte er. Er empfand sie als bösartig, nur darauf aus, ihm zu schaden. Er dachte nun an Scheidung, selbst die Kinder verstanden das.
Eine – mehr zufällig veranlasste – medizinische Untersuchung brachte ein überraschendes Ergebnis: Die Ehefrau litt an einem
langsam wachsenden Hirntumor, der für die Veränderung der Persönlichkeit verantwortlich war.
Das Familienleben änderte sich nach der Diagnose »Hirntumor« dramatisch. Von Scheidung war keine Rede mehr, der Mann empfand nun unendliches Mitleid für seine Frau, deren Lebenserwartung begrenzt war. Auch die vorher so störenden nörgelnden Bemerkungen und ihre allgemeine Nachlässigkeit wurden von ihm gänzlich anders empfunden. Die gleichen Tätigkeiten wurden nun nicht mehr mit innerem Protest, sondern in der Haltung durchgeführt: »Sie ist krank, sie kann nichts dafür.«
Probleme machten nun eher die Schuldgefühle, die sich alle Familienmitglieder machten, jemals wütend gewesen zu sein.
Ohne eine Änderung der Sachverhalte bedingt ein neues »Etikett« eine neue Situation. Statt »bösartig« ist die Ehefrau nun »krank«.
Diese Umetikettierung war auch in der Geschichte der Psychiatrie ein höchst bedeutsamer Entwicklungsschritt. Was in dunklen Zeiten als »vom Teufel besessen« galt, wurde im Rahmen der Medizinalisierung zu »krank«. Damit vollzog sich eine moralische Aufwertung ein und desselben Verhaltens, die in sich verändernd wirkte. Heute, wo fast jedes beliebige Verhalten leichterdings als »krank« bezeichnet wird, liegen die Dinge häufig anders. Die Definition der »Krankheit« kann heute sehr stabilisierend sein.
So begegnet dem Therapeuten etwa in den USA eine Vielzahl von Familien, in denen die Eltern eine panische Angst davor haben, die Liebe der Kinder zu verlieren. Diese Eltern scheuen sich dementsprechend, Kindern gelegentlich Grenzen zu setzen. Die Folge ist, dass die Kinder die Eltern ständig reizen, um auf diese Weise doch noch (sichere) Grenzen erleben zu können. Wenn sich die Eltern auf die gleiche Weise der Aufforderung widersetzen, wie die Kinder sie fordern, kommt es häufig zu einer symmetrischen Eskalation, die darin endet, die Kinder als »krankhaft aggressiv« zu diagnostizieren.
Statt eine Behandlung des Kindes einzuleiten, mag der Therapeut mit der Autorität des Fachmannes erklären, das Kind sei nicht »krank«, sondern »frech«. Dies setzt in den Eltern neue Verhaltensalternativen frei und kann die Dynamik nach einer Übergangsphase entschärfen.
Das Umetikettieren bietet dem Therapeuten unbegrenzte Möglichkeiten, kreativ zu sein. Beinahe jedes Verhalten kann unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden, da jedes Verhalten in einer Vielzahl von möglichen Kontexten steht. »Starrköpfigkeit« kann auch als »innerlich gefestigt« gesehen werden, »hysterisches Agieren« auch als »anregend lebendig«.
Eine Reihe von Beispielen gibt Weeks: 22
passiv sein die Fähigkeit, Dinge so zu akzeptieren,
wie sie sind
gefühllos sein sich vor Verletzungen schützen
verführerisch sein auf andere Menschen anziehend und
liebenswürdig wirken wollen
umherirren alle vorhandenen Möglichkeiten erfor
schen
kontrollieren wollen Struktur und Überblick in seine Um
welt bringen wollen
widerspenstig sein seinen eigenen Weg im Leben suchen
sich selbst abwerten sich seine eigenen Fehler eingestehen
Die freundlichen Bezeichnungen müssen wahr sein. Der Eindruck von Sarkasmus, der manchmal Umetikettierungen begleitet, sollte auf jeden Fall vermieden werden. Das gelingt dem Therapeuten, indem er den neu bezeichneten Anteil der subjektiven
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