Familientherapie ohne Familie
auf. In den Kontakten entstand jetzt ein scherzhaftes Spiel zwischen uns, in dem Corinna mir die Vorteile der neuen Situation beschrieb und ich, dies zwar anerkennend, ihr meine bedenkliche Skepsis zurückgab. Als dann tatsächlich ein kleiner Rückschlag kam, konnte ich ohne Mühe an meine Skepsis anschließen: Es sei einfach doch zu früh für eine solch einschneidende Veränderung bei ihr gewesen. Es mache ihr einfach zu viel schlechtes Gewissen und überlaste die Familie. Außerdem würde so gründlich wie sie schließlich keiner die Aufgaben erledigen.
Corinna lehnte sich in der folgenden Zeit gegen meine skeptische Einschätzung auf. Nach zwei Wochen hatte sie wieder in ein neues Gleichgewicht gefunden. Alle Familienmitglieder teilten sich erneut die Hausarbeit, wodurch sie mehr Zeit für sich gewann.
Süßigkeiten und übermäßiges Essen können wie andere Suchtmittel dazu dienen, Systeme zu stabilisieren. Diese Funktion ist dem Betroffenen verborgen. Er erlebt sein Verhalten lediglich als Unfähigkeit, zum Beispiel bezüglich seines angestrebten Zielgewichts zu versagen. Diese Unfähigkeitsgefühle belassen die Perspektive auf das Individuum gerichtet. Sie verhindern eher die Einsicht, dass Gewicht und Essverhalten auch eine interaktive Bedeutung haben. Damit stabilisiert sich aber eine gegebene Situation. Wenn das Übergewicht einmal solch eine Funktion eingenommen hat, ist es nur schwer zu ändern, da letztendlich alle Mitglieder eines Systems ein ihnen unbewusstes Interesse an der Beibehaltung dieses Gewichts haben.
Ein stabiles Übergewicht kann das Zeichen für eine stabile Kompromissbildung in einem Familiensystem sein, in dem bestimmte Aufgaben ungleich verteilt sind und durch das Übergewicht eines Mitgliedes stabilisiert werden. Eine Gewichtszunahme wäre dann als Hinweis für ein entstehendes Ungleichgewicht zu werten, indem bisherige Kompensationsmechanismen versagt haben. Nach dem Muster »Mehr desselben« wird durch Gewichtszunahme ein erneuter stabiler Zustand auf höherem Gewichtsniveau erreicht. Vermehrte Schuldgefühle und geringere Attraktivität stehen wieder im Gleichgewicht mit den stärker gewordenen Bedürfnissen nach Freiheit und Unabhängigkeit.
NACHWORT
Der Leser ist nun also – fast – am Ende meiner Ausführungen angekommen. Meine Absicht war es, neugierig zu machen und einen Teil der Faszination zu vermitteln, die die Thematik auf mich selbst ausübt.
Ich halte es allerdings auch für möglich, dass manch ein Leser sich in einem Zustand der Verwirrung befindet (Verwirrung ist stets der Beginn des kreativen Wandels!), besonders wenn das Gelesene sehr von seinem bisher praktizierten Stil abweicht. Ebenso werden einige Leser vielleicht denken, dass das alles nicht so einfach sein kann!
Solche Gedanken sind normal, wenn zwei neue Denkgebäude aufeinanderstoßen. Skepsis, Verwirrung und Interesse
stellten sich auch bei mir ein, als ich die ersten Begegnungen mit der systemischen Sichtweise machte. Es mischten sich bei mir die Eindrücke von überzeugender Logik und eigentümlicher Fremdheit. Aus diesem Grund noch einige Anmerkungen:
1. Was ist nun das »Systemische« an der systemischen Therapie? »Systemisch« – das weiß der Leser mittlerweile – ist die Betrachtungsweise eines Problems, die Art und Weise, wie der Betrachter sein Bild von der Wirklichkeit »konstruiert« 1 . Nicht das Objekt der Betrachtung ist entscheidend, sondern die Prozesse sind es, die im Betrachter zu dem führen, was er für »wahr« hält. Je nachdem, was der Betrachter als zu beschreibendes »System« wählt, kann sowohl die Brutpflege der Ameisen als auch die Bewegung der Planeten in systemischen Begriffen erfasst werden. Insofern ist die systemische Einzeltherapie nur eine der unzähligen denkbaren Anwendungen der systemischen Theorie. In der Psychotherapie wurde zuerst das System »Familie« untersucht. Aus diesem Grund haben viele Psychotherapeuten systemische Therapie stets mit Familientherapie gleichgesetzt.
Auch in diesem Buch wird meistens auf die Familie als das relevante System eingegangen. Dies geschieht, da die nahestehenden, lebensbeeinflussenden Personen meist Partner oder Familienangehörige sind. Es kann jedoch in gewissen Fällen sinnvoll sein, ein anderes System zu wählen: Arbeitskollegen, der Chef oder Freunde können weitere oder ausschließliche Elemente des Systems sein. Am therapeutischen Vorgehen ändert sich dabei nur wenig.
Ich empfehle dem Leser, von Zeit zu
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