Familientherapie ohne Familie
Zeit unterschiedliche Systeme zu beobachten, denen er im Alltag begegnet. Beispielsweise das System, in dem er arbeitet. Welche Kräfte und Koalitionen gibt es dort? Welche progressiven und konservativen Fraktionen sind erkennbar? Wo steht der Chef in der Ansicht der verschiedenen Mitarbeiter?
Viele Betriebe – besonders ab einer bestimmten Größe –
haben ein sehr stabiles Eigenleben. Das macht sich besonders beim Wechsel von Mitarbeitern bemerkbar. Der naive Betrachter würde vermuten, es käme zu einem Wandel, wenn endlich der »sture Bock« aus einem Mitarbeiterstab pensioniert wird. Überraschenderweise bleibt der Wandel aber häufig aus, da entweder der »Neue« die Rolle des »Alten« übernimmt oder das Gesamtsystem sich so umarrangiert, dass doch wieder alles stabil bleibt.
2. Für jemanden, der sich erst seit Kurzem mit der vorgestellten Technik und Theorie beschäftigt, mögen das Krankheitskonzept oberflächlich und manche Interventionen ironisch oder gar zynisch erscheinen. Vermutlich sind für diese Auffassung zwei Dinge verantwortlich:
Erstens: Wenn Interventionen beschrieben werden, so geschieht das häufig ohne die Miteinbeziehung des gesamten therapeutischen Kontextes. Gerade überraschende und ungewöhnliche Interventionen werden sehr stark durch die Person des Therapeuten und seine Art der Vermittlung geprägt. Was dem Außenstehenden paradox erscheint, wird bei entsprechender Vermittlung dem Patienten unmittelbar einfühlsam sein.
Zweitens: Interventionen stehen nicht allein, sondern sind nur auf dem Boden der systemischen Sichtweise zu verstehen. Mit einer anderen Epistemologie muss es zwangsläufig zu einem Missverständnis kommen. Ein Therapeut behandelt beispielsweise einen depressiven Patienten. Innerlich hat er ein Defizit-Modell der Depression vor Augen (fehlende Mutterliebe in der frühen Kindheit). Unter solch einer Modellvorstellung muss es unverständlich oder zynisch erscheinen, dem Patienten mehr depressives Verhalten zu verschreiben. Erst unter einer systemischen Perspektive wird die gleiche Verschreibung unmittelbar verständlich sein.
3. Was kann nun derjenige tun, der am beschriebenen Vorgehen interessiert ist und es anwenden will?
Meine Empfehlung ist, kleine Schritte zu machen. Der Interessierte mag in seiner täglichen Arbeit zuerst nur gezielt einzelne Fragen einstreuen, wie er sie in diesem Buch aufgeführt findet. Also Fragen nach Ressourcen, eine »Wunderfrage« oder die Frage, wie ein Patient am schnellsten die Beschwerden herbeiführen könnte. Danach mag er eine oder zwei zirkuläre Fragen stellen und sich schließlich mit dem Gedanken anfreunden, dass das Symptom kein Defizit darstellt, sondern in gewisser Weise auch ein »kreativer« Akt ist.
Formalisierte Ausbildungen werden von verschiedenen Ausbildungsinstituten angeboten. Der Schwerpunkt der Ausbildung liegt dabei meist auf der Familie. Neben der Vermittlung von systemischer Theorie und Technik scheint mir allerdings jede therapeutische Vorbildung wertvoll, besonders wenn sie mit einer Selbsterfahrung verbunden ist. Die Kenntnis der eigenen Person ist eine wichtige Voraussetzung für jede therapeutische Tätigkeit. Je mehr Erfahrung ein Therapeut im Umgang mit Menschen und mit sich selbst hat, desto besser wird er die in diesem Buch vorgestellten Gedanken nützen und in eine ihm entsprechende Form kleiden können.
Ohne solch eine persönliche Einbettung der Therapie und lediglich als Technik angewendet, wird systemische Arbeit wirkungslos bleiben und bei Patienten Unverständnis oder Verärgerung hervorrufen.
4. Am Ende des Buches werde ich noch zwei längere Therapiesequenzen darstellen, um einen zusammenhängenden Eindruck zu ermöglichen. Im ersten Beispiel wird mehr Wert auf die Ressourcen gelegt, im zweiten liegt der Schwerpunkt auf dem familiären Kontext. Diese Beispiele wollen keine vorbildhaften Muster sein. Jede Therapie hat ihr eigenes, individuelles Erscheinungsbild.
5. Meine letzte Anmerkung sei eine Warnung: Falls der Leser neugierig geworden ist, vielleicht sogar entschlossen sein
sollte, mit einzelnen Elementen der Technik zu experimentieren oder sich gar auf eine systemische Sichtweise probeweise einzulassen, so fühle ich mich verpflichtet, ihn auch auf die Gefahren eines solchen Entschlusses hinzuweisen. Er wird nämlich eine Erschütterung seiner vertrauten Denkweisen erleben. Schwierige Probleme werden ihm plötzlich mysteriös einfach erscheinen. Falls er
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