Familientherapie ohne Familie
auch als »Familienmedizin« 4 bezeichnet. Somatische, psychologische und soziale Aspekte werden bei dieser Art der Arbeit zu einem gemeinsamen Ansatz verschmolzen.
Ich will nicht verschweigen, dass die Komplexität dramatisch zunimmt, wenn medizinische Zusammenhänge mit beachtet werden. Somatische Beschwerden, körperliche Befunde, Untersuchungsergebnisse, medizinische Vorgeschichte und vieles mehr müssen gleichermaßen berücksichtigt werden.
Auf der therapeutischen Ebene steht neben den verbalen Interventionen, die in diesem Buch fast ausschließlich behandelt worden sind, auch eine Fülle von anderen Möglichkeiten zur Verfügung. Es sind dies oft körpernahe Verfahren: Medikamente, Ernährungs- und Bewegungsprogramme, Massagen, physikalische Medizin, Physiotherapie, apparative Verfahren und am Ende möglicherweise Operationen.
Die Anzahl der Variablen, die sowohl diagnostisch als auch therapeutisch ins Kalkül genommen werden können oder müssen, ist also ungleich höher. Damit wird auch die Betrachtung der zahllosen Beziehungen zwischen diesen Variablen ungeheuer komplex. Berücksichtigt man zum Beispiel die Beziehungen von fünf Elementen in einem System, ergeben sich 120 denkbare Zweierkombinationen. Eine Verdoppelung auf zehn Elemente steigert diese Anzahl schon auf 3 628 800!
Doch die reine Anzahl ist nur eine Seite. Schließlich gelten bei der Beziehung zwischen Menschen andere Gesetze als auf der Ebene von Neurotransmittern, Transaminasen, Blutdrucksteuerung oder Herzratenvariabilität.
Im Vergleich zur rein psychotherapeutischen Arbeit, die schon vielfach komplex genug ist, steigt die Unübersichtlichkeit des Feldes recht eindrucksvoll. Gleichzeitig gibt es auch mehr Möglichkeiten und Freiheiten, in ein System neue Impulse einzubringen und Wandel zu initiieren. Wie hier erfolgreiche diagnostische und therapeutische Strategien auf dem Hintergrund eines systemischen Verständnisses aussehen, könnte der Inhalt eines eigenen – sicherlich spannenden – Buches sein.
Was ist das Ziel in der Therapie?
Ziele sind gleichzeitig eines der wichtigsten und gefährlichsten Elemente der Psychotherapie. Es ist hilfreich, die Ziele der Therapie möglichst klar gemeinsam mit dem Patienten zu bestimmen. Das bedeutet, der Patient soll festlegen, was er möchte (zum Beispiel: »Woran würden Sie merken, dass Sie
nicht mehr hierherkommen möchten?«). Dabei ist es ein Gebot der Neutralität, grundsätzlich jedes Ziel zu akzeptieren, das an dieser Stelle genannt wird. Man sollte dies tun, selbst wenn dieses genannte Ziel möglicherweise erst einen kleinen Schritt in der gesamten Entwicklung darstellt. Vielleicht ist das genannte Ziel nach der eigenen Meinung ein Umweg oder kein adäquates Ziel. An diesem Punkt kann man den Patienten da »abholen«, wo er gerade steht.
Diese Geduld ist notwendig: Auch in der Psychotherapie gilt, dass ein Schritt auf den anderen folgen muss. Wenn der dritte Schritt vor dem ersten gemacht wird, gerät der Patient ins Stolpern. Mit kleinen Schritten führt die Therapie daher meist schneller zum Ziel. Das bedeutet nicht, dass alle Ziele fraglos hinzunehmen sind. Durch einige Fragen kann das Ziel präzisiert und abgegrenzt werden: »Wäre dieses oder jenes auch ein Ziel für Sie? Gesetzt den Fall, Sie haben das Ziel erreicht, was wäre dann in Ihrem Leben alles anders?«
Grenzen findet die Akzeptanz bei Zielen, die wir aus ethischen Gründen ablehnen (zum Beispiel bei physischer Gewalt). Doch erwähne ich dies nur der Vollständigkeit halber, es kommt in der Praxis praktisch nicht vor.
Gefährlich sind Ziele vor allem, wenn sie nicht ausgesprochen sind. Manchmal verfolgen Therapeuten Ziele, von denen sie nur vermuten, dass der Patient sie ebenfalls anstrebt. Meist sind sich beide Beteiligten über die unausgesprochenen Ziele nicht klar und es entwickelt sich ein zäher Kampf um diese heimlichen Vorhaben. Solche Ziele können etwa sein: größere innere Reife, Ablösung von den Eltern, größere Autonomie, Symptomfreiheit usw. Jeder Therapeut hat hier andere Vorstellungen, wie er dies versteht und wie dies zu erreichen ist. Nun versucht er den Patienten in diesem Sinn auf den rechten Weg zu bringen.
Ein sicheres Zeichen für ungeklärte oder divergente Ziele ist es, wenn eine Atmosphäre des »Fingerhakelns« in der Therapie aufkommt. Therapeuten versuchen in solchen Gesprächen dem Patienten mit guten Worten oder mit List Meinungen
und Bewertungen unterzuschieben, gegen die der
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