Familientherapie ohne Familie
psychotherapeutisch tätig ist, werden seine Patienten unerklärliche Besserungen zeigen und möglicherweise nach wenigen Stunden behaupten, sie fühlten sich gesund. Solch eine Therapie wird den Therapeuten schnell überflüssig machen und ist darüber hinaus natürlich finanziell ruinös. Jeder, der sich darauf einlassen will, sollte sich gut überlegen, ob er sich so eine billige Methode leisten kann.
HÄUFIG GESTELLTE FRAGEN
Was hat sich in den letzten 20 Jahren verändert? 1
Die Familientherapie befand sich Ende der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts in einer stürmischen Entwicklung. Beständig entdeckte man neue Anwendungsfelder, in denen eine Perspektive jenseits des Individuums neue therapeutische Möglichkeiten erschloss. Familientherapie ohne Familie war Teil dieser Bewegung.
Mittlerweile hat sich aus der anfänglich kleinen Gruppe von Begeisterten beinahe eine Majorität entwickelt. Jeder dritte oder vierte Psychotherapeut, der in einer Institution arbeitet, bezeichnet sich im deutschsprachigen Raum nun als
»Familientherapeut« oder hat eine wie auch immer geartete familientherapeutische Ausbildung durchlaufen. Auch in anderen Ländern hat sich das, was nun »systemische Therapie/ Familientherapie« genannt wird, in ähnlicher Weise etabliert.
Nicht nur die Zahl der Familientherapeuten hat sich rasant vermehrt. Auch die Zahl der Therapierichtungen erlebte naturgemäß eine größere Vielzahl und Differenzierung. Neben Therapierichtungen, die bereits ausführlich dargestellt wurden, gibt es Strömungen, in denen die Mehrgenerationenoder die strukturell-kybernetische Perspektive betont wird. In der narrativen Familientherapie wird der Blick vor allem auf die Geschichten gelenkt, mit denen wir unser Leben erzählen und es uns und anderen verständlich machen. Therapeutisch kann hier eine »Dekonstruktion« bzw. ein Neuerzählen der eigenen Geschichte erfolgen.
Ein Beispiel für ein stark strukturiertes Vorgehen ist die »Brief Strategic Family Therapy« für Kinder und Jugendliche mit antisozialem Verhalten oder Drogenabhängigkeit. In der »Kybernetik 2. Ordnung« (Heinz von Foerster) wird die Person des Therapeuten in die systemische Betrachtungsweise einbezogen. Therapeuten sind hier weder neutrale Beobachter, noch stehen sie außerhalb eines (Familien-)Systems. Therapeuten und Familien werden gemeinsam als Teil eines grö ßeren Systems verstanden. Ausdruck dieser Sichtweise ist zum Beispiel das »reflecting team« (Tom Andersen), bei der ein Rollenwechsel stattfindet: Die Familie beobachtet die Therapeuten bei der Beratung.
Weitere Impulse kamen vom Familienstellen bzw. von der Familienaufstellung (Bert Hellinger, Gunthard Weber), bei der aus einer Gruppe Stellvertreter für die eigenen Familienmitglieder ausgewählt und in einem Raum positioniert werden. Daraus ergab sich auch das Familienaufstellen mit Figuren, 2 das sich hilfreich im Rahmen einer systemischen Einzeltherapie erweisen kann.
Die Zahl der Richtungen und Anwendungen ist dabei keineswegs erschöpfend aufgezählt. Gleichzeitig droht jedoch
aus meiner Sicht auch eine Verwischung der Grenzen. Was ist eigentlich »systemisch« an der »systemischen Therapie«?
»Systemisch« bedeutet unverändert, dass auffälliges Verhalten von »Symptomträgern« nicht auf der Basis von individuellen Eigenschaften und Lebensgeschichten, sondern auf dem Hintergrund von relevanten Beziehungsgeflechten verstanden wird. Bei allen Unterschieden der einzelnen Therapierichtungen ist eine Reihe von therapeutischen Gemeinsamkeiten zu beobachten, 3 die bereits ausführlich dargestellt wurden: den Raum der Möglichkeiten erweitern, Achtung vor der Selbstorganisation, Neutralität, Ressourcen- und Lösungsorientierung.
Wie arbeite ich heute?
Ich arbeite heute in einer Praxisklinik, in die Patienten kommen, die von ihrem Selbstverständnis her vorwiegend unter somatischen Problemen leiden. Ein großer Teil dieser Menschen berichtet über sogenannte funktionelle Störungen wie Reizdarmsyndrom, Reizblase oder chronische generalisierte Schmerzen, ein Krankheitsbild, das in der Regel als »Fibromyalgiesyndrom« bezeichnet wird.
Unabhängig davon, was man als Ursache der jeweiligen Symptomatik annimmt, muss eine systemische Perspektive nicht an der Haut ihre Grenze finden. Systemverständnis kann sich genauso auf somatische Veränderungen in ihrer Interaktion mit anderen Feldern erstrecken. Diese Art des Ansatzes wird gerne als »bio-psycho-soziale Medizin« oder
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