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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Weiss
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zunehmend bewusst wurde, unterbrach sie es abrupt und verbot sich jeden Alkohol. Ab dieser Zeit zeigte sie dann allerdings eine Vorliebe für alle Formen von Süßigkeiten, die sie im Laufe des Tages während der Hausarbeit aß. Über die Jahre führte das zu einem beträchtlichen Übergewicht, das kurzzeitigen Abmagerungskuren hartnäckig widerstand.
    Als Corinna nun mit den erwähnten Beschwerden in Behandlung kam, wurde erneut mit ihr eine Diät vereinbart, die auch den Verzicht auf Süßigkeiten umfasste. In den ersten Wochen der Behandlung blühte sie auf, da ihre verschiedenen Beschwerden durch die spezielle Diät schnell besser wurden und sie voller Stolz einen beträchtlichen Gewichtsverlust berichten konnte. In dieser Zeit kam sie etwa zweimal pro Woche in die Praxis, was sie als sehr unterstützend für ihre Bemühungen erlebte.
    Dann kam die Sommerpause und Corinna stellte sich darauf ein, weiter alleine für sich die vereinbarte Diät zu befolgen. In den folgenden zwei Wochen fühlte sie sich wohl, dann aber wurde ihre Stimmung immer bedrückter. Die Familie wunderte sich über ihre Freudlosigkeit und den fehlenden Schwung, den sie sonst bei ihr gewohnt war. Nach anfänglicher Unterstützung der Diät durch den Mann schlug dieser nun vor, doch endlich wieder zuzunehmen. Sie sei früher doch viel ausgeglichener gewesen. Auch die Kinder brachten wie
zufällig Pralinen mit und ermunterten sie, bei Tisch doch zuzugreifen.
    Bei der Wiedereröffnung der Praxis war Corinna eine der Ersten, die morgens im Wartezimmer saß. Sie klagte über Schlaflosigkeit, morgendliche Antriebsstörung, allgemeine Lustlosigkeit, leichte Erschöpfbarkeit. Nach einigen Fragen zu diesen depressiven Erscheinungen zeigte sich der Zusammenhang zwischen der Gewichtsabnahme und der dauernden Überlastung, die Corinna bisher nie empfunden hatte. Hypothetische Fragen nach der Zukunft offenbarten Folgendes: Corinna befürchtete, sie könne zum ersten Mal in einen Streik treten, wenn sie auch weiterhin auf Süßigkeiten verzichtete. Dann würde sie nicht mehr ohne Weiteres die Arbeit für die großen Kinder mit übernehmen und den Mann von allen Belastungen abschirmen. Ich warnte die Patientin daraufhin vor einer weiteren Diät, da mir die Konsequenzen für den Augenblick zu gefährlich erschienen. Ich zählte ihr (mit einem kleinen humorvollen Augenzwinkern) auf, was die Kinder, ihr Mann und die Umgebung alles an ihr bemängeln würden, wenn sie nicht perfekt funktionieren würde. Es sei zwar bedauerlich, wenn ihre alten Beschwerden wiederkämen, aber sie müsse sich dann einfach sagen: »Ich kann das meiner Familie nicht zumuten. Ich muss auf sie Rücksicht nehmen.« Das sei gewiss ein Opfer, aber vielleicht müsse sie die Schmerzen des lieben Friedens willen auf sich nehmen.
    Corinna war über meinen Vorschlag erbost. Mit düsterer Miene verließ sie die Praxis und kam auch nicht zum nächsten vereinbarten Termin. Eine Woche später erschien sie verschmitzt lächelnd wieder bei mir und erzählte: Ihre Stimmung sei wieder glänzend, obwohl sie sehr mit mir gehadert habe. Nach einigen Tagen habe sie sich aber gedacht: »Nein, so nicht!«
    An einem Sonntag habe sie dann den Familienrat einberufen und erklärt, dass es so nicht weitergehe. Sie habe eingesehen, sie arbeite zu viel für die Familie und werde in Zukunft einige Arbeiten abgeben. Hier sei eine Liste mit den regelmäßigen
Notwendigkeiten, die alle nicht viel Zeit in Anspruch nehmen würden. Jeder solle sich davon eine aussuchen und diese unaufgefordert erledigen. Die Familie solle sich ihren Vorschlag bis zum nächsten Wochenende überlegen und ihr das Ergebnis mitteilen.
    Nach dieser Erzählung schaute mich die Patientin voll heimlichen Stolzes an: »Ich muss gestehen, ich habe auch ein bisschen gedroht. Falls meine Familie nämlich nichts macht, habe ich gesagt, würde ich überraschend für einige Wochen in Kur gehen.«
    In der folgenden Woche kam Corinna wieder. Die Familie habe sich entschieden, die verschiedenen Aufgaben zu übernehmen – und zu ihrer großen Überraschung ohne zu murren. Es gehe jetzt zu Hause viel besser und sie würde sich seit Langem nicht mehr so wohlfühlen. In der folgenden Zeit warnte ich vor Rückschlägen, da ich vermutete, Corinna könne aus schlechtem Gewissen oder aus Gewohnheit die neu erworbene Freiheit wieder aufgeben. Daher zählte ich ihr bei jedem ihrer Praxisbesuche gute Gründe für ein Wiederaufnehmen ihrer alten häuslichen Pflichten

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