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Familientherapie ohne Familie

Titel: Familientherapie ohne Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Weiss
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für die damalige Situation: Sie müsse mit der kleinen Schwester, die noch im Kinderwagen saß, einkaufen gehen und fühle sich damit total überfordert und verlassen. Sie habe es damals aber nie zugeben wollen, sondern sich in die trotzige Haltung »Ich zeige keinem, wie schlecht es mir geht« geflüchtet. Dabei aß sie dann eine riesige Tüte mit Keksen auf.
    Mittlerweile war aus dem trotzigen Kind eine beruflich sehr erfolgreiche Frau geworden, die es in gleicher Weise wie damals vermied zu zeigen, wie ihr innerlich wirklich zumute war.
    Ich stellte der Patientin eine Reihe von zirkulären Fragen zu den Konsequenzen einer möglichen Gewichtsabnahme, vor allem, was für Folgen das für ihr Verhalten haben würde. Schnell zeigte sich, dass sich die größte Veränderung in der Beziehung zu ihrer Mutter ergeben würde. Auf die Frage, was sich denn daran verändern könnte, sagte Marianne auf einmal voller Wut und Erschütterung: »Ich würde einen wahnsinnigen Krach mit meiner Mutter kriegen.«
    Marianne hatte seit ihrer Kindheit eine sehr ambivalente und hintergründig aggressive Beziehung zu ihrer Mutter. Nach wie vor hatte sie intensiven Kontakt zu ihr. Es war ihr aber nie möglich gewesen, gegenüber der Mutter aggressiv zu sein und ihr damit auch Grenzen zu zeigen. Das Übergewicht hatte für Marianne die Folge, mit einem chronisch schlechten Gewissen belastet zu sein, das ihr dauernd sagte (so Marianne wörtlich): »Wer so fett ist, soll erst einmal abnehmen, bevor er die Klappe aufreißt!«
    Für Marianne war die Erkenntnis über den Zusammenhang zwischen Gewicht und Schuldgefühlen und besonders zwischen Gewicht und Auseinandersetzung mit der Mutter so überraschend, dass sich jede weitere Deutung erübrigte.

    Bleibt noch anzumerken, dass die Patientin tatsächlich nach einiger Zeit sich von der Mutter abgrenzen konnte und parallel dazu auch an Gewicht verlor, wenn auch nicht bis zu dem Grad, den sie sich erhofft hatte.
     
    Während meiner Arbeit in einer medizinischen Allgemeinpraxis kam die 40-jährige Corinna C. Sie klagte über diffuse Bauchbeschwerden, Blähungen und Übergewicht. Sie verspürte die Beschwerden seit geraumer Zeit und hatte sich jetzt entschlossen, etwas dagegen zu tun.
    Corinna lebte in folgender Situation: Sie hatte früh geheiratet. Zwei fast erwachsene Kinder waren dabei, sich abzunabeln. Ein zwölfjähriger Sohn lebte noch zu Hause. Ihr Mann war sehr beschäftigt und kam abends erst spät zurück. Corinna versorgte den Haushalt, wobei die älteren Kinder weitgehend von irgendwelchen Verpflichtungen ausgenommen waren. Das Hauptproblem in der Familie war jedoch eine Erkrankung des zwölfjährigen Sohnes. Schon in früher Kindheit war seine Hämophilie (Bluterkrankung) entdeckt worden, was enorme Konsequenzen für die Familie hatte. Die Eltern passten ständig auf, dass sich das Kind keine Verletzungen zuzog, und waren so andauernd in der Position des Neinsagens. Außerdem waren sie von regelmäßigen und sehr teuren Injektionen abhängig, die sie an spezielle Zentren banden. Daher konnte die Familie nicht gemeinsam in Urlaub fahren. Dauernd drohte die Gefahr, der Junge könne sich verletzen und dann schnell lebensgefährlich bluten. Darüber hinaus konnten selbst harmlose Bewegungen zu Gelenkblutungen führen, die zwar nach einiger Zeit wieder abheilten, auf die Dauer aber zur vollständigen Versteifung der Gelenke führen könnten. Zum Glück, und nicht zuletzt wegen der guten Versorgung, war das bei dem Jungen bisher nicht eingetreten. Das Familienleben hatte sich also gezwungenermaßen der Erkrankung angepasst, wobei die Mutter den größten Teil der Betreuung auf sich genommen hatte. Dabei lastete noch ein anderer Druck auf ihr: Es war für den Jungen ausgeschlossen, später einmal eine körperliche
Tätigkeit ausüben zu können. So fühlte sich Corinna dafür verantwortlich, ihm zu einer guten Schulausbildung zu verhelfen, die ihn später unabhängig von seiner Behinderung machen sollte. Deswegen überwachte sie täglich seine Hausaufgaben oder hörte ihn die Vokabeln ab.
    Trotz der Belastungen, trotz fehlendem Urlaub über mehr als zehn Jahre, war Corinna nie depressiv oder wütend geworden, hatte keine Krankheiten bekommen und auch keine heimlichen Pläne geschmiedet, abzuhauen. Lediglich eines war zu beobachten: Über eine gewisse Zeit hatte sie angefangen, tagsüber hin und wieder einen Cognac oder ein Glas Wein zu trinken, und das steigerte sich langsam. Als ihr das

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