Familientherapie ohne Familie
Patient sich dann wehrt. Solche Sequenzen sind für beide Teile gleichermaßen unerfreulich und enden oft in gegenseitiger Abwertung. Um das zu vermeiden, empfiehlt es sich, eine Haltung der Offenheit und der zugewandten Neugierde zu entwickeln. Besser ist es, eine »dumme« Frage zu stellen, als den Patienten damit zu überraschen, was der Therapeut alles über sein Innenleben bereits erraten hat. Nur so gelingt es, ermüdenden Kämpfen zu entgehen, die durch ungeklärte Zielvorstellungen entstehen.
Dasselbe gilt für die Rahmenbedingungen einer Therapie:
Eine 24-jährige Germanistikstudentin wurde von einem Kollegen zur Therapie überwiesen, dem systemisches Arbeiten vertraut ist. Sie hatte ihn wegen einer bulimischen Symptomatik aufgesucht. Im ersten Gespräch besprach ich die Ziele der Therapie und den Therapierahmen. Für mich erschien die Symptomatik nicht allzu gravierend. Die Patientin hatte nur zwei bis drei Essanfälle pro Woche. Einige Wochen waren bereits ganz ohne Essattacken verlaufen. Ich konnte gegenwärtig keine Faktoren entdecken, die auf eine lange Therapie hindeuteten. Ich kalkulierte daher innerlich mit acht, höchstens zehn Therapiesitzungen.
Nur um ganz sicherzugehen, fragte ich die Patientin, wie lange ihrer Meinung nach eine Therapie dauern würde. Sie antwortete: »Ich bin der gleichen Meinung wie mein Hausarzt. Der sagt, eine Bulimie geht so langsam, wie sie gekommen ist. Das sind jetzt fünf Jahre.« An dieser Stelle war ich bereits ziemlich überrascht. Noch verdutzter wurde ich, als die Patientin erklärte, sie denke an eine Therapie von zwei Stunden pro Woche über den gesamten Zeitraum.
Die tatsächliche Therapiedauer lag dann im Rahmen, den ich angenommen hatte. Damit aber solch eine kurze Therapie möglich wurde, war es notwendig, die Vorstellung der Patientin über die Therapiedauer zu berücksichtigen und positiv zu konnotieren.
In einem anderen Fall klagte eine 50-jährige Patientin über die hartnäckige Alkoholabhängigkeit des Ehemannes. Er würde
täglich zwei, manchmal sogar drei Flaschen Bier am Abend trinken. Das Hauptproblem sei jedoch, dass er seine Abhängigkeit nicht einsehe. In meinem Inneren entstanden viele Fragen und Vorannahmen. Lag da wirklich eine schwere Abhängigkeitsproblematik vor? Das Bild wandelte sich erst, als nach beharrlichem Fragen deutlich wurde, dass der Ehemann »selbstverständlich« ausschließlich alkoholfreies Bier zu sich nehme. Aber auch dieses enthalte ja schließlich einen kleinen Rest Alkohol...
Gibt es ein besonders wichtiges Element im Gespräch?
An erster Stelle muss die Aufwertung des Patienten stehen. Ohne Selbstachtung gibt es keine Veränderung! In vielen kleinen Schritten (zum Beispiel Umdeutungen im Gespräch, positive Konnotierung, Anerkennung des Geleisteten) versucht der Therapeut, eine andere emotionale Färbung der geschilderten Fakten zu erreichen. Wenn dies gelingt, hat er viel geleistet. Patienten sagen dann oft spontan »Von der Seite haben wir das noch gar nicht betrachtet, aber so kann man es auch sehen...« und sind erleichtert. Diese Entlastung von Schuld oder Scham ist häufig der erste und wichtigste Schritt, um Veränderung möglich zu machen.
Was ist für den Therapeuten/die Therapeutin am wichtigsten?
Aus der Erfahrung mit Kolleginnen und Kollegen scheint die größte Gefahr zu sein, als Therapeut zu stark die Sichtweise der Patienten anzunehmen. Jeder Patient kommt mit einer inneren Landkarte von seinem Problem in die Therapie. Er wird versuchen, diese Landkarte vor dem Therapeuten auszubreiten und ihm zu erklären, wie seine Sichtweise aussieht, also die Perspektive, mit der er gescheitert ist.
Der Therapeut muss von seiner Seite her sich teilweise auf die Wahrnehmung des Patienten einstellen und gleichzeitig eine neue Außenperspektive entwickeln. Mit einem Bein steht er gleichsam in der Realität des Patienten, mit dem anderen in seiner eigenen Sicht der Dinge.
Dabei ergeben sich zwei Extrempositionen: Therapeuten, die sich total in Patienten einfühlen, werden
diese zwar gut verstehen, und der Patient wird das schätzen. Leider befinden sie sich dann in der gleichen Denkfalle und können meist nichts mehr verändern.
Das andere Extrem stellen Therapeuten dar, die überlegen von oben herab auf den Patienten blicken und dessen hilflose Bemühungen, aus dem emotionalen Labyrinth zu entfliehen, sofort durchschauen. Sie haben zwar den richtigen Überblick, es fehlt jedoch am notwendigen
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