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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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war schon weit nach Mittag) wurde Fandorin von einer Erleuchtung heimgesucht. Wirklicher Staatsrat und Nihilist – das wollte einfach nicht zusammenpassen. Was den Chef der Leibwache des brasilianischen Kaisers anging, so ließ sich manches vorstellen, Fandorin war nie in Brasilien gewesen und hatte keine Ahnung von den dortigen Zuständen. Aber einen russischen Staatsdiener im Generalsrang mit einer Bombe in der Tasche – hier weigerte sich Fandorins Einbildungskraft entschieden. Einen Wirklichen Staatsrat kannte er von Angesicht: Fjodor Trifonowitsch Sewrjugin, Direktor des Gymnasiums, das er knappe sieben Jahre besucht hatte. Der und ein Terrorist? Nonsens!
    Und plötzlich stockte Erast Fandorin der Atem. Natürlich! Die aufgeführten noblen Herrschaften waren keine Terroristen, sondern Opfer derselben! Nihilisten aller Länder, jeder mit einer Nummer chiffriert, meldeten dem revolutionären Zentralstab die verübten terroristischen Anschläge!
    Obwohl … Nein. Im Juni war kein portugiesischer Minister umgebracht worden, das hätten die Zeitungen in jedem Fall gemeldet. Gut, dann ging es eben um potentielle Opfer, so war es! Die »Nummern« (ihre Namen fehlten aus Gründen der Konspiration) holten sich bei der Zentrale die Erlaubnis für den nächsten Terroranschlag ein.
    Nun paßte eines zum anderen. Nun kam Licht in die Sache. Hatte Brilling nicht eine Spur erwähnt, die von Achtyrzew zu einem Landhaus bei Moskau führte? Fandorin, von seinen eigenen Spionagephantasien in Anspruch genommen, hatte damals nicht richtig hingehört.
    Stopp. Was hatte ein Dragonerleutnant auf der Liste zu suchen? So ein kleiner Fisch? Ganz einfach! gab sich Fandorin sogleich selbst die Antwort. Wahrscheinlich war denen der arme, namenlose Italiener zur Unzeit über den Weggelaufen. Wie seinerzeit dem weißäugigen Übeltäter ein junger Kollegienregistrator von der Moskauer Kriminalpolizei.
    Und was nun? Er saß untätig hier herum, derweil so viele ehrbare Leute in tödlicher Gefahr waren! Am meisten tat ihm der unbekannte Petersburger Generalmajor leid. Bestimmt ein untadeliger Mann, nicht mehr jung an Jahren, mit vielen Verdiensten, die Kinder womöglich noch klein … Dabei sah es ganz so aus, als schickten diese Carbonari Monat für Monat ihre todbringenden Büttel aus. Kein Tag ohne Blutvergießen in ganz Europa! Und die Fäden liefen in Petersburg zusammen. Die Worte des Chefs fielen ihm ein: »Hier steht Rußlands Schicksal auf dem Spiel.« O weh, Herr Brilling, o weh, lieber Herr Staatsrat, nicht nur Rußlands Schicksal, das Schicksal der gesamten Weltzivilisation.
    Schriftführer Pyshow mußte informiert werden. Diskret, damit kein Denunziant in der Botschaft Wind bekam. Nur wie? Denunziant konnte ein jeder sein, und für Fandorin war es gefährlich, sich in der Nähe der Botschaft blicken zu lassen, selbst als rothaariger Franzose im Malerkittel. Trotzdem, er mußte es riskieren. Ein Schreiben mit der städtischen Post an den Gouvernementssekretär Pyshow, »zu eigenen Händen«. Kein überflüssiges Wort – nur den Absender und beste Grüße von Iwan Brilling. Der Empfänger war klug genug, sich das übrige zu denken. Und die Londoner Post hatte den Ruf, jeden Brief binnen zwei Stunden an den Adressaten zu bringen.
    So also war Fandorin vorgegangen, und nun war es Abend, und er saß da und wartete auf ein dezentes Klopfen an der Tür.
    Geklopft wurde indes nicht. Es kam anders.
     
    Spät abends, schon nach Mitternacht, saß Fandorin immer noch in dem verschlissenen Sessel, in dem das blaue Portefeuilleversteckt war, und döste. Die Kerze auf dem Tisch war fast niedergebrannt, in den Zimmerecken ballten sich bedrohliche Schatten, draußen rumorte ein nahendes Gewitter. Es war schwül, und er fühlte eine Beklemmung, als hockte jemand schwer und unsichtbar auf seiner Brust, drückte ihm die Luft ab. Fandorin schaukelte auf der verschwommenen Grenze zwischen Wachsein und Schlaf. Wichtige, zweckdienliche Gedankengänge verstrickten sich plötzlich auf unnütze, hanebüchene Weise, bis der junge Mann auffuhr und den Kopf schüttelte, um sich aus Morpheus Armen zu befreien.
    Als er wieder einmal auf diese Art erwacht war, ging Sonderbares vor. Zunächst war ein unbegreifliches leises Schaben zu hören. Dann sah Fandorin (und wollte seinen Augen nicht trauen), daß der im Schloß steckende Schlüssel sich von selbst zu drehen begann. Mit einem widerwärtigen Knarren ging die Tür nach innen auf, und eine wunderliche

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