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Fandorin

Fandorin

Titel: Fandorin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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hat mich betrogen und verführt. Der einzige, den ich liebte, hat mich verraten. Du hast eine schreckliche Sünde begangen, Erast, du hast die Schönheit getötet, dabei ist sie, die Schönheit, ein Wunder des Herrn. Du hast das Wunder des Herrn mit Füßen getreten. Warum nur, wozu?«
    Der blutige Tropfen rinnt von ihrer Wange, fällt auf Fandorins Stirn, die Kälte läßt ihn erschauern, er reißt die Augen auf. Sieht, daß keine Amalia da ist, gottlob. Ein Traum, nichtsals ein böser Traum. Doch da! Schon wieder tropft es eiskalt auf seine Stirn.
    Was ist das? dachte Fandorin, der von dem Schreck nun endgültig wach war, das Heulen des Windes hörte, das Rauschen des Regens, das Donnergrollen. Was tropfte da? Nichts Weltbewegendes. Regenwasser von der Decke. Beruhige dich, dummes Herz, sei endlich still.
    Da aber war das Flüstern wieder! Leise, doch vernehmlich flüsterte es hinter der Tür: »Warum? Wozu?«
    Und gleich noch einmal: »Warum? Wozu?«
    Es ist das schuldbeladene Gewissen! sagte sich Fandorin. Es verursacht Halluzinationen. Von der widerwärtigen Angst, die an ihm klebte und durch alle Poren in sein Inneres drang, vermochte diese wohlweisliche Erklärung ihn allerdings nicht zu befreien.
    Eine Weile schien alles still zu sein. Wetterleuchten flakkerte über die nackten grauen Wände, dann war es wieder dunkel.
    Kaum eine Minute später klopfte es leise an das Fenster. Tock-tock. Und noch einmal: Tock-tock-tock.
    Ganz ruhig! Das ist der Wind. Der Baum. Äste stoßen gegen die Scheibe. Das gibt es.
    Tock-tock. Tock-tock-tock.
    Der Baum? Was für ein Baum denn? Mit einem Ruck setzte Fandorin sich auf. Draußen auf dem Hof stand kein Baum, der Hof war kahl. Herrgott, was war das?
    Der gelbe Spalt zwischen den Vorhängen wurde fahl und erlosch – wahrscheinlich war der Mond hinter Wolken verschwunden. Gleich darauf sah er ein Wackeln. Etwas Dunkles, Greuliches, Unbegreifliches bewegte sich.
    Er mußte etwas tun, egal was. Nur nicht herumliegen und spüren, wie sich die Haarwurzeln sträuben. Nur nicht den Verstand verlieren.
    Fandorin erhob sich, ging auf steifen Beinen zum Fenster hinüber, den Blick unverwandt auf jenes dunkle Etwas gerichtet. In dem Moment, da er die Gardinen beiseite schob, wurde der Himmel von einem Blitz erhellt – und Fandorin sah sich einem totenblassen Gesicht mit schwarzen Augenhöhlen gegenüber, das unmittelbar hinter der Scheibe hing. Eine Hand leuchtete auf – in einem Licht, das nicht von dieser Welt war. Mit gespreizten Fingern rutschte sie langsam die Scheibe entlang.
    Fandorins Reaktion war dumm, kindisch. Er heulte auf, prallte zurück und stürzte zum Bett, warf sich, den Kopf unter den Händen vergraben, darauf nieder. Aufwachen! Bloß schnell aufwachen! Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme …
    Das Klopfen hörte auf. Er riß das Gesicht vom Kissen, schielte ängstlich zum Fenster, wo nichts Furchterregendes mehr zu sehen war – Nacht, Regen, anhaltendes Wetterleuchten. Es waren Sinnestäuschungen gewesen. Ganz bestimmt Sinnestäuschungen.
    Glücklicherweise entsann sich Fandorin nun der Regeln aus dem Brevier des indischen Brahmanen Chandra Johnson, die das richtige Atmen und das richtige Leben lehrten. Wie hatte es doch geheißen in dem weisen Buch:
     
    Richtiges Atmen ist die Grundlage richtigen Lebens. Es stützt dich in schweren Minuten des Daseins, es verschafft dir Besinnung, Erleuchtung und Erlösung. Hast du Prana, die Essenz des Lebens, eingeatmet, so laß dir mit dem Ausatmen Zeit, bewahre sie in deinen Lungen. Je tiefer und gemessener dein Atem, um so größer wird deine Lebenskraft sein. Derjenige ist zur Erleuchtung gekommen, der Prana abends eingeatmet und bis zum ersten Morgengrauen nicht wieder ausgeatmet hat.
     
    Bis zur Erleuchtung war es für Erast Fandorin gewiß noch ein gutes Stück Weg, doch hatten ihn die allmorgendlichen Übungen immerhin schon so weit gebracht, daß er die Luft bis zu einhundert Sekunden anhalten konnte. Zu diesem zuverlässigen Mittel griff er auch jetzt. Er sog die Lungen voll Luft und verharrte so, »verwandelte sich in einen Baum, einen Stein, einen Halm«. Und es half – das Herz klopfte wieder etwas regelmäßiger, das Entsetzen verflüchtigte sich. Bei hundert atmete Fandorin geräuschvoll aus, befriedigt vom Sieg des Geistes über den Aberglauben.
    Und da ertönte ein Laut, dazu angetan, Zähneklappern hervorzurufen. Jemand kratzte an der Tür.
    »Laß mich ein!«

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