Fandorin
chiffrierte Depesche an den Chef …
Nein. Nie und nimmer in die Botschaft. Gut möglich, daß dort mehr als nur ein Judas sitzt. Dann bekäme Amalia Wind davon, und alles begänne von neuem. Diese ganze Geschichte darf überhaupt niemand erfahren. Außer dem Chef. Ein Telegramm ist hierfür ungeeignet. Der Empfänger müßte annehmen, daß Fandorin von so viel europäischen Eindrücken den Verstand verloren hat. Und ein Brief? Könnte gehen – nur braucht der bis Moskau viel zu lange.
Was tun? Was tun? Was tun?
Heute ist, nach europäischem Kalender, der letzte Junitag. Heute wird Amalia einen Strich unter ihre Junibuchhaltung ziehen und einen dicken Brief an Nickolas Croog in Petersburg schicken. Als erster wird wohl der Wirkliche Staatsrat sein Leben lassen – verdienstvoller Beamter, Vater dreier Kinder. Er wohnt ja auch dort in Petersburg, ihn hat man im Nu beim Kragen. Eigentlich ziemlich dämlich: daß da wer aus Petersburg nach London schreibt, und die Antwort kommt wieder aus Petersburg. Scheint man um der Konspiration willen in Kauf zu nehmen. Die Außenstellen der Geheimorganisation dürfen nicht wissen, wo sich der Zentralstab befindet. Oder wandert dieser Stab von einem europäischenLand ins andere? Ist heute in Petersburg, morgen wer weiß wo? Oder womöglich existiert gar kein Stab, sondern nur eine einzelne Person? Dieser Croog vielleicht? Das wäre zu einfach. Aber man müßte verhindern, daß Croog den Brief bekommt.
Nur, läßt sich ein Brief aufhalten?
Nein. Schlicht unmöglich.
Stopp. Man muß diesen Brief nicht aufhalten, man muß ihm zuvorkommen! Wie viele Tage geht die Post von hier nach Petersburg?
Die nächste Szene spielt Stunden später im Büro des Amtsvorstehers für den Londoner Postbezirk Mitte-Ost. Der Direktor fühlt sich geehrt (immerhin hat Fandorin sich als russischer Fürst vorgestellt), tituliert ihn »Prince« und »Your Highness« und verhehlt nicht die Lust, die ihm das bereitet. Fandorin steht vor ihm im eleganten Einreiher und mit jenem dünnen Spazierstöckchen, ohne das sich ein echter Prince einfach nicht denken läßt.
»Es tut mir außerordentlich leid, mein Prince, doch Sie werden Ihre Wette verlieren«, erklärt der Postdirektor dem begriffsstutzigen Russen nun schon zum dritten Mal. »Ihr Land gehört dem Weltpostverband an, welcher vorletztes Jahr ins Leben gerufen wurde und zweiundzwanzig Staaten mit mehr als dreihundertundfünfzig Millionen Einwohnern in sich vereint. Auf diesem Territorium gelten einheitliche Reglements und Tarife. Wenn ein Brief heute, am 30. Juni, in London als Eilpost abgeht, dann schaffen Sie es nicht, ihn zu überholen. Pünktlich in sechs Tagen, am Morgen des 6. Juli, wird er im Postamt von Sankt Petersburg anlangen. Das heißt, nicht am 6., sondern … der wievielte ist das nach Ihrem Kalender?«
»Woher wollen Sie wissen, daß er am 6. anlangt und ich nicht?« äußert der »Fürst« seine Zweifel. »Er wird ja nicht durch die Luft fliegen!«
Mit gewichtiger Miene gibt der Direktor nähere Erläuterungen.
»Sie müssen wissen, Eure Hoheit, Briefe mit Eilpostaufdruck werden ohne den geringsten Aufschub zugestellt. Angenommen, Sie besteigen in Waterloo Station genau den Zug, der Ihren Eilbrief befördert. In Dover schaffen Sie es auf dieselbe Fähre. Und auch in Paris, Gare du Nord, treffen Sie rechtzeitig ein.«
»Na also! Wo ist das Problem?«
»Das Problem ist«, verkündet der Postdirektor feierlich, »daß die Schnelligkeit einer Eilpost einfach nicht zu überbieten ist! Nach Ankunft in Paris müssen Sie umsteigen in den Zug nach Berlin. Dafür müssen Sie eine Fahrkarte erwerben, denn Sie haben verabsäumt, sie vorzubestellen. Sie müssen erst einen Kutscher finden, der Sie von einem Bahnhof quer durch das Zentrum zum anderen fährt. Dort müssen Sie sich gedulden, denn der Berliner Zug fährt nur einmal täglich. Wir haben also Zeit, zu unserem Eilbrief zurückzukehren. Von Gare du Nord wird er in einer das Schienennetz nutzenden Sonderpostdraisine zum nächstbesten Zug transportiert, welcher in östlicher Richtung unterwegs ist. Es muß sich nicht um einen Personenzug handeln, es kann auch ein Güterzug mit Postwagen sein.«
»Aber ich könnte genauso verfahren«, widerspricht Fandorin in großer Erregung.
Der Verfechter des europäischen Postwesens kann sich eine gestrenge Antwort nicht versagen.
»Vielleicht wäre so etwas bei Ihnen in Rußland möglich, aber gewiß nicht in Europa. Na gut, der Franzose
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