Fandorin
Halle auf und ab gegangen, als ihm Michail Nikolajewitsch, der erwartungsvoll vor dem Telegrafen ausgeharrt hatte, schon winkte und einen Papierstreifen entgegenstreckte: Das Rücktelegramm war da.
Prompt war auch Kondrati Schtukin zur Stelle – gerade noch rechtzeitig, um zu erspähen, was auf dem Streifen stand:
AN HERRN FANDORIN. HERR BRILLING WEILT IN PETERSBURG. ADRESSE: KATENIN-SKAJA, HAUS SIEVERS. LOMEJKO, DIENSTHABENDER BEAMTER
Ob dieser Mitteilung geriet der Karierte schier aus dem Häuschen. Er klatschte sogar in die Hände und fragte Kondrati Schtukin, der neugierig zu ihm hinübersah: »Kateninskaja, wo ist das? Weit von hier?«
»Durchaus nicht«, erwiderte der Angesprochene höflich. »Von hier aus bequem zu erreichen. Sie nehmen eine Linienkutsche, fahren bis Ecke Newski/Litejny, und von da …«
»Schon gut, ich hab ja einen Kutscher«, ließ der Detektiv ihn nicht ausreden und eilte, die Reisetasche schwingend, dem Ausgang zu.
Die Kateninskaja gefiel Fandorin außerordentlich. Sie stand den vornehmsten Straßen Berlins oder Wiens in nichts nach: Asphaltbelag, neue, elektrisch betriebene Laternen, solide, mehrstöckige Häuser. Mit einem Wort: Europa.
Das Haus der Sievers – mit steinernen Rittern am Giebel, das Portal trotz der noch fahlen Dämmerung hell erleuchtet – war eines von den schönsten. Einem Mann wie Iwan Brilling war auch kein anderes Quartier zuzutrauen. Ihn sich in einem windschiefen Hüttchen mit staubigem Hof und Apfelbaum im Garten vorzustellen war schlechterdings unmöglich.
Herr Brilling sei zu Hause, wurde er vom gefälligen Portier beruhigt, »vor fünf Minuten eingetroffen«. Fandorin freute sich: Alles ging glatt heute, alles lief wie am Schnürchen.
Zwei Stufen auf einmal nehmend, flog er die Treppe zum ersten Stock hinauf und drückte einen blankgeputzten goldenen Klingelknopf.
Iwan Brilling öffnete selbst. Er hatte es noch nicht geschafft sich umzuziehen, nur den Gehrock abgelegt. Unter dem hohen Stehkragen schillerte ein Stück Emaille in allen Regenbogenfarben: ein nagelneuer Wladimir-Orden.
»Ich bin’s, Chef!« verkündete Fandorin freudig und war gespannt auf die Wirkung.
Diese überstieg alle Erwartungen.
Brilling stand wie versteinert, hob sogar die Arme, als wollte er sagen: Fort von mir! Weiche, Satan!
Fandorin lachte.
»Mich haben Sie wohl nicht erwartet?«
»Fandorin? Wo kommen Sie her? Ich hatte nicht mehr gehofft, Sie unter den Lebenden zu sehen!«
»Wieso denn das?« fragte der Reisende nicht ohne Koketterie zurück.
»Na, hören Sie mal! Sie waren spurlos verschwunden. Das letzte Mal wurden Sie in Paris gesichtet, am sechsundzwanzigsten. In London sind Sie nie angekommen. Ich habe bei Pyshow angefragt – da heißt es, der sei auch spurlos verschwunden, die Polizei sucht ihn!«
»Ich hab Ihnen aus London einen ausführlichen Brief ans Moskauer Kriminalamt geschickt. Da steht alles drin, auch über Pyshow. Der Brief wird wohl bald eintreffen. Ich konnte ja nicht wissen, daß Sie in Petersburg sind.«
Der Chef machte ein besorgtes Gesicht.
»Sie sehen mitgenommen aus. Sind Sie etwa krank?«
»Nur furchtbar hungrig, ehrlich gesagt. Ich hab den ganzen Tag auf der Post Wache geschoben und keinen Bissen zwischen die Zähne bekommen.«
»Auf der Post Wache geschoben? Nein, warten Sie, erzählen Sie noch nichts. Wir machen es anders. Als erstes kriegen Sie Tee und Kuchen von mir. Mein Semjon, dieser Strolch, säuft schon den dritten Tag, so daß ich mir selber helfen muß. Ich ernähre mich im wesentlichen von Kuchen und Konfekt aus der Patisserie Filippow. Sie mögen hoffentlich Süßes?«
»Und wie!« bekannte Fandorin ehrlichen Herzens.
»Sehen Sie, ich auch. Das hat mir meine Waisenkindheit eingebrockt. Es macht doch nichts, wenn wir uns in die Küche setzen, auf Junggesellenart?«
Der Weg über den Flur reichte aus, um zu bemerken, daß Brillings Wohnung zwar nicht sonderlich groß, doch ausgesprochen praktisch und mit Sorgfalt eingerichtet war: Nichts war überflüssig, alles Nötige vorhanden. Ein lackierter Kasten mit zwei schwarzen Metalltrichtern an der Wand erregte Fandorins Interesse.
»Das ist ein wahres Wunderwerk der modernen Wissenschaft«,erläuterte Brilling. »Der sogenannte Bellsche Apparat. Unser Agent in Amerika hat ihn neulich geschickt. Dort gibt es einen genialen Erfinder, Mr. Bell, dem wir nunmehr die Möglichkeit verdanken, Wortwechsel über beträchtliche Entfernungen – bis zu mehreren
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