Fandorin
geräumigen, mit grünem Samt tapezierten Coupé (darin ein Schreibtisch, ein weiches Sofa und zwei Nußbaumstühle, deren Beine am Boden angeschraubt waren), als er den Brief öffnete und zu lesen begann.
Die drei Depeschen stammten aus Washington, Paris und Konstantinopel. Der Kopf stimmte bei allen überein:
Dringend! An Ew. Hohe Exzellenz Lawrenti Arkadjewitsch Misinow in Beantwortung der Depesche Nº 13476/8g v. 26. Juni 1876.
Die Schreiben waren von den Gesandten persönlich gezeichnet. Dem Inhalt nach waren sie sehr verschieden.
27. Juni (9. Juli) 1876, 12.15 Uhr. Washington
Die angefragte Person heißt John Pratt Dobbs und wurde am 9. Juni d. J. zum Stellvertretenden Vorsitzenden des Senatsausschusses für Finanzen gewählt. Der Mann ist in Amerika sehr populär. Ein Millionär von der Sorte, die hierzulande
selfmade man
genannt wird. Alter: 44. Über die frühe Lebensphase, Geburtsort, Herkunft etc. ist nichts bekannt. Gelangte vermutlich in Zeiten des kalifornischen Goldfiebers zu Reichtum. Gilt als unternehmerisches Genie. Während des Bürgerkriegs war er Berater des Präsidenten Lincoln in Finanzfragen. Manch einer ist der Ansicht, man habe es dem Bemühen Dobbs’ und beileibe nicht den Verdiensten der Unionsgeneräle zu danken, daß der kapitalistische Norden den Sieg über den konservativen Süden davontrug. Im Jahr 1872 wurde Dobbs in den Senat des Bundesstaates Pennsylvania gewählt. Aus gut unterrichteten Kreisen verlautet, daß er als künftiger Finanzminister gehandelt wird.
9. Juli (27. Juni) 1876, 18.45 Uhr. Paris.
Wie durch Vermittlung des Ihnen bekannten Geheimagenten Coco aus dem Kriegsministerium zu erfahren war, ist Konteradmiral Jean Entrepide, seit jüngstem Kommandeur des Siamesischen Flottengeschwaders, am 15. Juni zum Vizeadmiral befördert worden. Es handelt sich um eine der legendärsten Persönlichkeiten in der französischen Flotte. Vor zwanzig Jahren
wurde von einer französischen Fregatte vor der Küste von Tortuga ein auf offener See treibendes Boot gesichtet, darin ein Knabe, der offensichtlich einen Schiffbruch überlebt hatte. Durch das Abenteuer war der Knabe vollkommen des Gedächtnisses beraubt, wußte weder seinen Namen noch seine Nationalität zu benennen. Als Schiffsjunge an Bord genommen, erhielt er den Namen der betreffenden Fregatte. Er machte glänzende Karriere. Nahm teil an zahlreichen Expeditionen und kolonialen Eroberungen. Erwarb sich besondere Verdienste im Mexikokrieg. Letztes Jahr sorgte J. E. in Paris für eine echte Sensation, als er die älteste Tochter des Herzogs de Rohan ehelichte. Details aus der Biographie der angefragten Person folgen im nächsten Bericht.
27. Juni 1876, 2 Uhr nachmittags. Konstantinopel
Mein lieber Lawrenti, Deine Anfrage hat mich ordentlich überrascht. Die Sache ist die, daß ich auf Anwar Effendi, an dem Du ein so dringendes Interesse bekundest, schon geraume Zeit ein wachsames Auge habe. Dieses Subjekt, ein Vertrauter von Midhat Pascha und Abd ul-Hamid, gehört den mir vorliegenden Informationen zufolge zu den Schlüsselfiguren einer derzeit heranreifenden Palastrevolte. Der Sturz des jetzigen Sultans und die Thronbesteigung Abd ul-Hamids ist nur noch eine Frage der Zeit. Dann wird Anwar Effendi zweifellos eine außerordentlich einflußreiche Position gewinnen. Er ist sehr klug, europäisch gebildet, spricht eine große Zahl östlicher und westlicher Sprachen. Leider vermögen wir nicht mit detailliertem biographischem Material zu diesem interessanten Herrn aufzuwarten. Man weiß nur, daß er nicht älter als fünfunddreißig sein kann und irgendwo in Serbien oder Bosnien geboren sein muß. Sein Stammbaum liegt im Dunkeln, es gibt keinerlei Angehörige, was sich für die Türkei als
sehr günstig erweisen könnte, sollte Anwar eines Tages Wesir werden. Man stelle sich vor: ein Wesir und kein Schwarm habgieriger Verwandter! Hierzulande einfach undenkbar. Anwar ist so etwas wie die »graue Eminenz« des Midhat Pascha, aktives Mitglied der »Partei neuer Osmanen«. Habe ich Deine Neugier befriedigen können? Dann befriedige Du auch die meine. Wozu ist Dir mein Anwar Effendi denn nütze? Was weißt Du von ihm? Bitte unverzüglich mitteilen, könnte von Wichtigkeit sein.
Fandorin las die Depeschen nun schon zum x-tenmal, machte Anstreichungen. In der ersten:
Über die frühe Lebensphase, Geburtsort, Herkunft etc. ist nichts bekannt
; in der zweiten:
wußte weder seinen Namen noch seine Nationalität zu
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