Fandorin
benennen
; in der dritten:
Stammbaum liegt im Dunkeln, es gibt keinerlei Angehörige
. Man konnte das Grausen bekommen. Wie es sich darstellte, waren alle drei irgendwie urplötzlich, aus dem Nichts aufgetaucht, um sofort mit einer jedes menschliche Maß übersteigenden Zielstrebigkeit die Karriereleiter zu erklimmen. Waren das Mitglieder irgendeiner rätselhaften Sekte? Oder womöglich – o Gott! – überhaupt keine Menschen, sondern Wesen von einem anderen Stern? Marsbewohner zum Beispiel? Handelte es sich, schlimmer noch, um Teufelsspuk? Fandorin fröstelte es, da er an seine nächtliche Begegnung mit dem »Gespenst« Amalia dachte. Auch so ein Geschöpf von unklarer Herkunft, diese Beshezkaja. Und dann noch diese satanische Formel: Asasel. Das roch geradezu nach Schwefel.
Es klopfte leise an die Tür, Fandorin zuckte zusammen, fuhr mit der Hand hinter den Rücken, an sein verstecktes Holster, ertastete den rauhen Griff der Herstal.
Das unterwürfige Gesicht des Kondukteurs erschien im Türspalt.
»Euer Exzellenz, in Kürze haben wir einen Aufenthalt. Wollen Sie sich vielleicht ein wenig die Beine vertreten? Es gibt auch einen Erfrischungsraum.«
Bei dieser Anrede straffte Fandorin unwillkürlich den Rücken und warf einen verstohlenen Blick in den Spiegel: Konnte man ihn allen Ernstes für einen General halten? Sich die Füße zu vertreten fand er indes keine schlechte Idee, im Gehen dachte es sich leichter. Schon die ganze Zeit beschäftigte ihn ein unausgegorener Gedanke, der ihm, sobald er ihn packen wollte, immer wieder entglitt, so als wollte er sagen: Grabe ruhig ein bißchen weiter, vielleicht kommst du noch drauf.
»Warum nicht. Wie lange stehen wir?«
»Zwanzig Minuten. Aber Sie müssen sich nicht sputen, ohne Sie fahren wir sowieso nicht los«, fügte der Kondukteur kichernd hinzu.
Fandorin sprang vom Trittbrett auf den von Laternenlicht überfluteten Bahnsteig. Nicht mehr alle Coupéfenster waren erhellt – ein paar Passagiere hatten sich wohl schon schlafen gelegt. Sich behaglich reckend und die Arme hinter dem Rücken kreuzend, rüstete sich Fandorin zu einem Spaziergang, der die Gehirntätigkeit ein wenig anregen sollte. In diesem Moment jedoch stieg hinter ihm aus demselben Waggon ein würdevoller Herr mit Bart und Zylinder und warf ihm einen auffälligen, forschenden Blick zu, bevor er seiner jugendlichen Reisegefährtin den Arm bot. Beim Anblick ihres frischen, entzückenden Gesichts fühlte sich Fandorin wie vom Blitz getroffen. Dem Fräulein ging ein Strahlen über das Gesicht, und sie rief mit glockenheller Stimme: »Papa!«– sie betonte das Wort auf der letzten Silbe – »Papa, sieh mal, da ist der Herr von der Polizei! Von dem ich dir erzählt habe, erinnerst du dich? Na, der das Fräulein Pfuhl und mich verhört hat!«
Letzteres äußerte sie mit offenkundigem Stolz, und ihre blanken anthrazitfarbenen Augen sahen Fandorin voller Neugier an. Um der Wahrheit Genüge zu tun: Durch die sich überschlagenden Ereignisse der letzten Wochen war die Erinnerung an jene, die Fandorin für sich Lisanka getauft und manchmal, in besonders träumerischen Momenten, gar Engelchen genannt hatte, etwas in den Hintergrund getreten. Nun jedoch, beim Anblick dieses liebreizenden Geschöpfs, war die Glut, die seither im Herzen des armen Kollegienregistrators vor sich hin glomm, sofort aufs neue entfacht, loderte hell und sprühte leuchtende Funken.
»Ich bin genaugenommen kein Polizist«, murmelte Fandorin errötend. »Fandorin, Angestellter für besondere Dienste bei …«
»Ich weiß, ich weiß,
je vous le dis tout cru
«, sagte der bärtige Herr mit Verschwörermiene, und der Brillant auf seiner Krawatte blitzte. »Geheime Staatssache, Sie müssen nicht indiskret werden.
Entre nous sois dit
, ich hatte selbst wiederholt Gelegenheit, in derlei Angelegenheiten unterwegs zu sein, habe vollstes Verständnis.« Er lupfte den Zylinder. »Aber gestatten Sie, daß ich mich vorstelle. Wirklicher Geheimrat Alexander Apollodorowitsch Ewert-Kolokolnikow, Präsident der Moskauer Gouvernementsgerichtskammer. Meine Tochter Lisa.«
»Nennen Sie mich lieber Lizzy, Lisa gefällt mir nicht, es klingt wie der schiefe Turm von Pisa«, erbat sich das Fräulein und machte sodann ein naives Geständnis: »Ich habe oft an Sie gedacht. Emma haben Sie genauso gefallen. Ich weiß sogarnoch Ihren Vor- und Vatersnamen: Erast Petrowitsch. Erast, ein hübscher Name.«
Fandorin glaubte zu träumen. Ein wunderbarer Traum.
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