Fangonia (German Edition)
unerträgliche Stille wurde durchbrochen vom geräuschvollen Schnarchen seiner Freunde. Wilbur wartete noch einen Augenblick länger, bis er sich ganz sicher sein konnte, dass niemand außer ihm mehr wach war. Umständlich fingerte er im Dunkeln nach seiner Lampe. Er schüttelte sie und ein winziges grünes Lichtpünktchen flackerte auf. Dann ein weiteres, dann noch eins, bis das märchengrüne Licht der Glühwürmchenlampe der Kammer geheimnisvolle Schatten entlockte.
Lautlos schob Wilbur die Holztür auf und stahl sich leichtfüßig hinaus in die Dunkelheit.
Er kannte den Weg. Jeden Abend ging er ihn – hinunter, bis zum Ende des Waldes. Weiter wagte er sich nicht, konnte er nicht. So sehr er es sich auch wünschte.
Seit Jahren hatte Wilbur ganze Nächte lang durch die letzte Baumreihe auf die weiten nachtgrünen Flächen gestarrt. Voller Sehnsucht, voller Hoffnung. Wenn er dann ein kleines Licht über den Wiesen aufflammen sah, hüpfte sein Herz bei dem Gedanken, es könnte etwas anderes sein, als ein Glühwürmchen, so wie es ihm der Verstand erbarmungslos mitteilte.
Doch die Jahre vergingen, und allmählich fing Wilbur an zu vergessen, was ihn jeden Abend hier hinzog. Eine sorgsam gehütete Erinnerung hüllte sich in zarten Nebel. Trotzdem ließ er keine einzige Nacht aus. Er war es jetzt so gewöhnt.
Das saftige feuchte Moos federte freundlich unter seinen Füßen und schluckte jegliches Geräusch seiner Fußtapfen. Die Nacht war dunkel. Der Mond verwehrte ihm heute sein milchiges Licht. Schmaler und schmaler war er in den letzten Nächten geworden. Jetzt war er ganz verschwunden. Heute Nacht würde Wilbur nicht lange fortbleiben. Gegen Mitternacht würde das Neumond-Fest beginnen, das sein Volk zu jeder mondlosen Nacht feierte.
Er freute sich darauf, mit seinen Freunden den Mond bei seinen vielen tausend Namen zu rufen und ihn auf diese Weise wieder an den Nachthimmel zu locken. Er musste es vorher schaffen, wieder in seinem Zimmer zu sein. Die Freunde durften keinen Verdacht schöpfen.
Die Luft war kühl, aber erfrischend. Wilbur atmete tief durch. Ein Stern blinzelte ihm geheimnisvoll durch die Baumkronen zu. Es war eine gute Nacht für einen einsamen Waldspaziergang. Noch einmal rechts, um die große Buche, und schon sah er die weiten Wiesen durch die Bäume blitzen. Näher ging er nicht. Das genügte ihm. Zufrieden ließ er sich auf den Boden nieder und genoss den Blick in die dunkle Ferne.
Wilbur hatte noch nicht lange bewegungslos dagesessen, als er unsanft aus seinen Träumen gerissen wurde. Ein kleiner Zweig hatte sich knirschend von einem dicken Ast gelöst und sauste auf seinen Kopf nieder.
Leise fluchend rieb er sich den roten, verwuschelten Haarschopf. Mürrisch blickte er in die Baumkronen.
Es kam nicht selten vor, dass die Bäume ihn ärgerten. Gerade wollte er sich aufmachen zum Gehen – für diesen Abend hatte er genug – da blieb sein Blick auf etwas haften.
Irrte er sich? Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Nein, tatsächlich! Zwei Füße ragten aus dem dicken Astknoten über ihm heraus.
„Was zum Teufel ist das?“, murmelte er. Energisch schlug er mit seinem Wanderstock gegen den knorrigen Stamm des Baumes, der Dina festhielt.
„Lass los, was du da oben festhältst, Baum! Hörst du, was ich dir sage? Lass den Unsinn!“, befahl Wilbur der störrischen, alten Eiche.
Der Baum knirschte und knarrte, rauschte mit den Blättern. Dina ließ die Stimme unten aufhorchen. Da war doch jemand!
Hilfe – doch kein Laut kam ihr über die Lippen. Das Blatt schluckte jeden Ton. Doch auf einmal fühlte sie, wie sich der harte Griff des Astes um sie lockerte. Das Blatt schob sich von ihrem Mund. Noch bevor sie irgendetwas sagen, oder auch nur irgendetwas denken konnte, flog sie durch die Luft.
Ein Glück, das Moos wuchs hier so dicht und weich, dass es Dinas Sturz aus der schwindelnden Höhe abfederte, und sie sich nicht sonderlich wehtat. Sie rieb sich den linken Arm, während sie sich nach dem Besitzer der Stimme umsah, die sie von oben vernommen hatte. Ein Junge, etwa zwei Köpfe kleiner als sie, stand unweit von ihr entfernt und stützte sich auf seinen Stock. Trotz der Dunkelheit konnte Dina erkennen, dass er rote Haare hatte.
„Hallo, ich bin Dina!“, erklärte sie den grünen Augen, die sie ungläubig anstarrten. „Vielen Dank, dass du mich befreit hast. Kannst du auch meine Freunde herunterholen – Bitte?“, fügte sie höflich hinzu.
„Sag bloß, da
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