Fantasien der Nacht
hergerufen hast, also hör mit diesem Versteckspiel auf. Ich will nur wissen, was dir Sorgen bereitet.“
„Sie gerufen? Ich habe Sie mit Sicherheit nicht gerufen. Wie könnte ich das? Ich kenne Sie nicht einmal!“
Er zog eine Augenbraue hoch. Hastig schlug Tamara sich die Hand vor den Mund, hatte sie ihn sich doch mit genau diesem Gesichtsausdruck vorgestellt. Ihr blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, da seine nächste sonderbare Frage nicht lange auf sich warten ließ. „Und kennst du ihn? “
Er schaute hinüber zur Straße, und sie folgte seinem Blick. Sie hielt den Atem an, als sie Curtis’ DPI-Lieferwagen dort stehen sah. Dank des rostigen Flecks unterhalb des Außenspiegels auf der Fahrerseite wusste sie, dass es seiner war. Sie konnte kaum glauben, dass er die Frechheit besaß, ihr nachzuspionieren. Mit einem entrüsteten Seufzer flüsterte sie: „Er ist mir gefolgt. Aber warum sollte dieser gefühllose Mist…“
„Sehr gut, obwohl ich annehme, dass du den Grund dafür, warum er sich hier herumtreibt, genau kennst. Das war eine Falle, nicht wahr? Mich hierherzulocken, und dann dein aufmerksamer Freund da drüben …“
„Sie hierherzulocken? Warum, um alles in der Welt, sollte ich Sie hierherlocken, und wie sollte ich das bewerkstelligen? Ich sagte Ihnen, dass ich Sie noch nie zuvor gesehen habe.“
„Du rufst mich jede Nacht, Tamara. Du flehst mich an, zu dir zu kommen, und hast mich damit beinahe in den Wahnsinn getrieben.“
„Ich glaube nicht, dass dazu sonderlich viel nötig ist. Ich sagte bereits, dass ich Sie nicht gerufen habe. Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen.“
Von Neuem glitt sein Blick suchend über ihr Gesicht, und sie spürte, wie ihre Gedanken durchforscht wurden. Er seufzte und runzelte die Stirn so sehr, dass sich seine Augenbrauen trafen. „Was ist deiner Meinung nach dann der Grund dafür, dass dieser werte Herr dort drüben dir folgt?“
„So wie ich Curtis kenne, hat er vermutlich gedacht, es sei zu meinem eigenen Besten. Diese Floskel hat er in letzter Zeit weiß Gott oft genug vorgebracht.“
Ihre Wut ließ ein wenig nach, als sie darüber nachdachte. „Er könnte sich Sorgen um mich machen. Ich weiß, dass Daniel sich welche macht … mein Vormund, wenn Sie so wollen. Offen gestanden mache ich mir auch Gedanken. Ich schlafe nachts nicht mehr – überhaupt nicht. Lediglich am Tage kann ich hin und wieder ein Auge zutun. Tatsächlich bin ich schon zweimal an meinem Schreibtisch eingenickt.“
„Sobald ich zu Hause bin, schlafe ich wie ein Stein, aber bloß bis Sonnenuntergang. Bei Einbruch der Dunkelheit bekomme ich dann fürchterliche Albträume und wache so laut schreiend auf, dass ich wohl beide davon überzeugt habe, dass ich langsam den Verstand verliere; anschließend bin ich die ganze Nacht über wach und komme nicht zur Ru…“ Sie brach ab, als sie erkannte, dass sie gerade einem vollkommen Fremden ihre Lebensgeschichte erzählte.
„Bitte, sprich weiter“, bat er sofort. Er schien sehr daran interessiert, mehr darüber zu erfahren. „Erzähl mir mehr über diese Albträume.“ Offenbar waren ihm ihre Bedenken nicht entgangen. Er streckte die Hand nach ihr aus und berührte mit den Spitzen seiner langen, schmalen Finger ihre Wange. „Ich will dir nur helfen. Ich tue dir nichts Böses.“
Tamara schüttelte den Kopf. „Sie werden lediglich ebenfalls zu dem Schluss gelangen, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe.“ Er runzelte die Stirn. „Ich drehe durch“, erklärte sie. Sie legte einen Finger an die Schläfe und machte kleine Kreisbewegungen. „Völlig plemplem.“
„Du bist gewiss nicht … plemplem, wie du es nennst.“ Seine Hand glitt zu ihrem Hinterkopf, und er zog sie näher zu sich. Sie widersetzte sich nicht. Seit Monaten schon hatte sie sich nicht mehr so geborgen gefühlt wie in seinen Armen. Er hielt sie zärtlich an sich gedrückt, als wäre sie ein kleines Kind, und streichelte mit einer Hand ihr Haar. „Erzähl mir von deinen Träumen, Tamara.“
Sie seufzte, außerstande, der sanften Verlockung seiner Stimme und seiner Berührung zu widerstehen, zumal sie wusste, dass das ohnehin keinen Sinn hatte. „Es ist dunkel, und da ist so etwas wie dichter Wald. Dichter Nebel und Dunst bedecken den Boden, sodass ich meine Füße nicht sehen kann. Beim Laufen stolpere ich ständig. Ich weiß nicht, ob ich auf etwas zulaufe oder vor etwas fliehe. Ich weiß, dass ich nach jemandem suche, und im Traum bin
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