Fantasien der Nacht
vollbringen Leistungen, die jenen, die dazu nicht in der Lage sind, beinahe übernatürlich erscheinen. Ganz genauso verhält es sich mit außersinnlicher Wahrnehmung, bloß dass du das viel besser beherrschst als die meisten anderen Menschen. Deine Gabe ist einfach nicht so gewöhnlich wie diese anderen Dinge.“
Sie betrachtete sein Gesicht und kam zu dem Schluss, dass ihre aufmunternden Worte ihn offenbar nicht wirklich trösteten. „Vielleicht solltest du mir sagen, was dich bedrückt.“
Er blies Luft durch seine Lippen und schüttelte den Kopf. „Weißt du, ich bin in so was nicht besonders gut. Wahrscheinlich ist es gar nichts. Ich … ich will dir nicht grundlos Angst einjagen.“
Sie runzelte die Stirn. „Mir Angst einjagen? Geht es dabei um mich, Jamey?“
Er nickte, ihrem Blick ausweichend.
Sie erhob sich von ihrem Stuhl, ging um den Tisch herum und sank vor ihm auf die Knie. Seit sie vor sechs Monaten angefangen hatte, mit Jamey zu arbeiten, hatte sich eine enge Beziehung zwischen ihnen aufgebaut. Sie liebte ihn wie einen eigenen Sohn. Es missfiel ihr, dass er sich wegen etwas so quälte, das mit ihr zu tun hatte. Er war stets unglaublich sensibel, wenn es um ihre Gefühle ging. Er wusste immer, wenn sie verstimmt oder schlecht drauf war. Er hatte auch über ihre Albträume und ihre Schlaflosigkeit Bescheid gewusst.
„Ich finde, du bist verdammt gut in so was. Zumindest sofern es mich betrifft. Falls du irgendetwas aufgeschnappt hast, dann sag’s mir. Vielleicht kann ich es erklären.“
Einer seiner Mundwinkel verzog sich. Er sah sie ernst an. Sein angespannter Gesichtsausdruck ließ ihn wie die Miniaturausgabe eines Erwachsenen wirken. „Ich habe ständig das Gefühl, dass dir irgendetwas passieren wird … als würde jemand dir … dir etwas antun.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber ich weiß nicht, wer es ist oder worum es geht, also was ist an diesem Wissen so großartig?“
Sie lächelte milde. „In letzter Zeit ist mir jede Menge passiert, Jamey. Persönliche Sachen. Sachen, die mir ganz schön an die Nieren gehen. Ich nehme einmal an, dass du womöglich das empfängst.“
„Meinst du?“ Seine dunklen Augen blickten sie hoffnungsvoll an, um sich dann vor Sorge zu verfinstern. „Bist du okay?“
Sie nickte nachdrücklich. „Ich denke schon. Mach dir bitte keine Sorgen: Alles kommt wieder in Ordnung. Diese Albträume haben inzwischen aufgehört.“
„Das ist gut“, sagte er, auch wenn sein Stirnrunzeln nicht verschwand. „Trotzdem habe ich das Gefühl, dass es irgendwelche Leute auf dich abgesehen haben.“ Er kaute auf seiner Lippe herum. „Kennst du jemanden namens Eric?“
Etwas Hartes von der Größe eines Ziegelsteins traf ihre Brust. Sie schnappte hörbar nach Luft und stand so schnell auf, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. „Eric?“, wiederholte sie dumpf. „Warum? Hat es etwas mit ihm …?“
„Keine Ahnung. Es ist nur so, dass mir dieser Name in den sonderbarsten Momenten in den Sinn kommt. Wenn das passiert, bin ich immer entweder sehr traurig oder sehr besorgt. Ich glaube, dass er sich vielleicht dann gerade so fühlt, aber wie ich schon sagte, ich bin in so was nicht sehr gut. Ich könnte das alles auch einfach ganz falsch verstehen.“
Sie wartete, bis der Augenblick der Panik vorüberging. Sie hatte befürchtet, er würde sagen, dass Eric derjenige war, der ihr Schaden zufügen wollte. Sie fragte sich immer noch, ob das nicht vielleicht wirklich der Fall war. Indes, sie wollte nicht, dass Jamey davon etwas mitbekam. Sie atmete ein paarmal tief durch und versuchte sich zusammenzunehmen, bevor sie ihn wieder ansah.
„Danke für die Warnung, Jamey, aber ich denke, dass du diese Angelegenheit zu ernst nimmst. Schau mal, warum öffnest du nicht einfach den Karton? Ich kann mich schon nicht einmal mehr daran entsinnen, was da drin ist.“
Nach einem letzten flüchtigen Blick, wie um sich zu vergewissern, dass er sie nicht verängstigt hatte, beugte er sich vor, streckte eine Hand aus, packte den Karton und zog ihn zu sich heran. Als er hineinsah, weiteten sich seine Augen, und er holte ein Videospiel daraus hervor. „ Dungeon War riors! Mom hat überall danach gesucht – wo hast du es gefunden?“
„Deine Mom hat nicht so intensiv danach gesucht, wie du geglaubt hast. Ich habe sie gebeten, das mir zu überlassen.“
Voller Begeisterung betrachtete er die farbenfrohe Verpackung. „Danke, Tam.“ Er stand auf; offensichtlich hatte er es eilig,
Weitere Kostenlose Bücher