Fantasien der Nacht
Sie richtete sich auf und löste sich aus seiner Umarmung. „Ich glaube … ich glaube, du solltest jetzt gehen.“
Der Schmerz, der in seinen schwarzen Augen aufleuchtete, war beinahe zu viel für sie.
Er senkte den Kopf. „Wie du wünschst.“ Erneut suchte er ihren Blick, doch jetzt wirkte er verschlossen. „Bitte vergiss nicht, was ich dir heute Abend gesagt habe. Wenn du mich jemals brauchst, musst du mich bloß rufen. Ich werde kommen.“
Sie blinzelte, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, zu behaupten, dass derlei unmöglich war. Vielleicht hatte er wirklich etwas von ihren Träumen aufgefangen, aber es waren auch außergewöhnlich kraftvolle Träume gewesen. War er allen Ernstes der Ansicht, dass diese eigenartige mentale Verbindung zwischen ihnen über diesen einmaligen Vorfall hinaus fortbestehen würde?
Er ließ ihr nicht die Zeit, sich danach zu erkundigen. Mit einer Hand auf ihrem Rücken drängte er sie in Richtung Balkontür. Er öffnete sie für sie und schob sie sanft hindurch.
Tamara trat in ihr Wohnzimmer und verharrte, als sie unvermittelt die Kälte gewahrte. Gänsehaut überzog ihre Arme, und unwillkürlich durchlief sie ein Schauder. Einen Moment lang stand sie da wie erstarrt; dann wandte sie sich um, in der Absicht, ihn zu fragen, wie er überhaupt auf ihren Balkon hinaufgelangt war – eine Frage, die ihr dummerweise nicht schon früher eingefallen war. Jedoch, er war fort. Sie schüttelte unwillig den Kopf und sah sich um. Es war, als wäre er niemals hier gewesen.
Keith
5. KAPITEL
Jamey Bryant rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her; seine Augen schweiften immer wieder zu dem vor dem Fenster fallenden Schnee hinaus, statt seine Aufmerksamkeit Tamara oder dem Karton in der Mitte des Tisches zu widmen.
„Komm schon, Jamey. Konzentrier dich.“ Ihr war nicht wohl dabei, von dem Jungen etwas zu verlangen, was sie für unmöglich hielt. Den ganzen Tag über war es ihr nicht gelungen, Eric Marquand aus ihren Gedanken zu vertreiben. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, sah sie sein Gesicht vor sich.
Die Erinnerung an seine Berührung, daran, wie sich seine Lippen auf den ihren angefühlt hatten, an das Gefühl der Sicherheit, das seine Umarmung ihr verschafft hatte, ließ sie einfach nicht los. Der Kummer, den sie in seinen Augen gesehen hatte, bevor er verschwand, verfolgte sie mehr als alles andere.
Andererseits hegte sie nach wie vor ziemliche Zweifel daran, dass es ihn tatsächlich gab. Genauso gut hätte er eine Schöpfung ihrer Fantasie sein können, ein Hirngespinst, ein Traum. Wie sonst hätte er so rasch von ihrem Balkon verschwinden können? Dass er hinuntergesprungen war, war ausgeschlossen. Dabei hätte er sich wenigstens ein Bein gebrochen. Also war er vielleicht nicht wirklich gewesen …
Doch, das war er. Sie wusste, dass er wirklich war, ebenso wie die Gefühle, die er in ihr auslöste, wirklich waren. Nichts, das derart intensiv war, konnte lediglich Einbildung sein.
Jamey seufzte und richtete den Blick auf den Pappkarton, der zwischen ihnen stand. Er verzog das Gesicht, bis es Falten schlug und aus der Furche zwischen seinen feinen dunklen Augenbrauen drei wurden. Er beugte sich vor, und sein sommersprossiges Antlitz rötete sich, bis Tamara der Gedanke kam, dass er den Atem anhielt. Ihr Verdacht bestätigte sich einen Moment später, als er die Luft mit einem lauten Zischen entweichen ließ und in seinen Stuhl zurücksackte. „Ich kann nicht“, sagte er. „Darf ich jetzt gehen?“
Tamara versuchte es mit einem ermutigenden Lächeln. „Du hasst das hier wie die Pest, oder?“
Er zuckte die Schultern, schaute zum Fenster und dann zurück auf den Karton. „Ich wünschte, ich wäre wie die anderen Kinder. Ich komme mir komisch vor, weil ich Dinge weiß, die andere nicht wissen. Wenn ich dann etwas nicht weiß, was ich aber wissen sollte, fühle ich mich wie ein Dummkopf. Und dann gibt es Momente, in denen ich Dinge mitkriege, die überhaupt keinen Sinn ergeben. Es ist, als wüsste ich etwas, ohne zu wissen, was es bedeutet. Verstehst du, was ich meine?“
Sie nickte. „Ich denke schon.“
„Also, was ist so toll daran, Sachen zu wissen, wenn sie für einen keinen Sinn ergeben?“
„Jamey, du bist nicht komisch, und wir beide wissen, dass du kein Dummkopf bist. Jeder von uns besitzt eine Fähigkeit, die ihn von den anderen abhebt. Einige Leute können Töne singen, die der Rest von uns niemals zustande bringen würde. Manche Sportler
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