Farben der Schuld
Grabreihen geht. Mondlicht fällt zwischen den Wolken hindurch, malt fahle Konturen auf die Gesichter der steinernen Engel, so dass sie beinahe lebendig wirken.
Wo ist das Mädchen, ist sie überhaupt noch hier? Judith bleibt stehen und horcht. Sie glaubt etwas zu hören, Schritte vielleicht oder ein Tier, und ihr Puls geht schneller. Dann trägt ein Lufthauch den unverkennbaren Duft einer selbst gedrehten Zigarette zu ihr und kurz darauf entdeckt sie das Gruftimädchen. Sie kauert vor einem riesigen Steinengel auf dem Boden, ein zusammengekrümmtes Bündel, die Arme fest um die Knie geschlungen. Der Widerschein mehrerer Grablichter zittert auf ihrem blassen Gesicht.
»Beatrice, hallo, ich bin Judith.« Vorsichtig, als gelte es, ein verängstigtes Tier zu zähmen, bewegt Judith sich auf das Mädchen zu.
»Bat«, faucht das Mädchen. »Ich heiß Bat.«
»Bat. Okay. Das wusste ich nicht. Meine Freundin Cora hat mich gebeten, nach dir zu sehen.«
»Bist du von den Bullen?«
»Ja.« Judith setzt sich auf die steinerne Grabeinfriedung, holt ihren Tabak aus der Tasche, dreht sich eine Zigarette. Konzentriert, als ob das ihr einziges Interesse wäre.
»Ich hab dich schon mal gesehen.« Das Mädchen starrt sie an. »Hier auf dem Friedhof. Du hast geheult.«
»Mein bester Freund liegt da drüben.« Judith zündet ihre Zigarette an, deutet vage hinter sich.
»Du vermisst ihn.«
»Ja. Jeden Tag.«
»Wie ist er gestorben?«
»Jemand hat ihn bei einem Einsatz erschossen. Er war Kommissar. Wie ich.«
»Warst du in ihn verliebt?«
»Nein. Er war einfach mein Freund.«
Das Gruftimädchen nickt. »Ich hab auch so einen Freund. Fabian. Er war mit Jana zusammen.«
»Jana?«
»Meine beste Freundin.« Sie zeigt auf das Grab.
›Jana Schumacher. Innig geliebte Tochter«. Judith betrachtet das pummelige Mädchen mit dem kahlrasierten Kopf, das sich wie eine Fledermaus nennt und mit beinahe andächtigem Blick vor den Grablichtern und dem Steinengel kniet.
»Ich glaub, ihr ist das Gleiche passiert wie mir«, flüstert das Mädchen tonlos.
»Jana ist vergewaltigt worden?«
Ein knappes Nicken. »Von demselben Typ wie ich. Aber ich kann's nicht beweisen.«
»Magst du mir davon erzählen?«
»Was soll das bringen?«
»Vielleicht weiß ich einen Weg, den zu bestrafen, der das getan hat.«
Es ist eine ziemlich wirre Geschichte, von einem Musikstudio und dessen Besitzer, von Versprechungen, Träumen und Freundschaft, die Judith nach und nach aus dem Mädchen herauslockt. Stockend vorgetragen, von zahlreichen Gedanken-und Zeitsprüngen zerstückelt, und als sie endlich glaubt, einigermaßen zu verstehen, hat sie das Gefühl, dass die Kälte der Steinumfriedung, auf der sie immer noch hockt, sich auf ihren ganzen Körper übertragen hat.
»Kann ich mir von dir eine drehen?«, fragt Bat.
Wortlos hält Judith ihr den Tabak hin und steht auf. Ihre Beine sind steif, wie eingefroren. Wenn sie Pech hat, hat sie sich eine saftige Erkältung oder eine Blasenentzündung geholt.
Etwas knackt hinter ihr. Kies knirscht. Sie fährt herum, glaubt gerade noch einen Schatten zu erkennen. Shit, shit, shit. Warum liegt ihre Walther daheim? Ihre Hände zittern, ihre Knie werden weich, die Panik aus dem Haus, die sie schon überwunden glaubte, springt sie wieder an.
Die Taschenlampe, komm schon, du bist Kommissarin, du bist hier die Starke, jetzt reiß dich am Riemen, Judith Krieger!
»Was ist?« Das Mädchen starrt sie an, ihre Augen in dem bleichen Gesicht wirken riesig.
»Still!« Judith schaltet die Lampe an. Unstet huscht der Lichtstrahl über die Grabreihen. Sie glaubt sich entfernende Schritte zu hören. Oder spielt ihr verdammtes Hirn ihr nur einen weiteren Streich?
»Hallo? Hallo!«
Nichts ist da, niemand. Nur sie und das Mädchen, das sich nun schwerfällig hochstemmt und am ganzen Leib zittert, so heftig, dass ihre Zähne klappern.
»Komm, Bat, bitte, hier kannst du nicht bleiben.« Judith packt sie am Arm, zieht sie weg von dem Grab.
»Meine Freundin wartet mit dem Auto. Wir fahren dich jetzt erst mal heim und du schläfst, und morgen früh sehen wir weiter, okay?«
Keine Antwort, aber auch kein Widerstand. Stumm lässt sich das Mädchen zurück zur Straße führen.
Es ist aussichtslos, die Geliebte des Priesters mit Hilfe der Daten des Einwohnermeldeamts aufzuspüren. Er hat das der Krieger von Anfang an gesagt, und nachdem die ersten Rückmeldungen von den Kollegen eintreffen, kann er seine Einschätzung nun immerhin
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