Farben der Schuld
herausgeputzt haben und nun bemüht sind, Haltung zu wahren, obwohl sie völlig eingeschüchtert sind.
Warum hat Röttgen kein Foto von seiner Schwester als erwachsene Frau aufgehängt, wenn er doch so auf Familie steht, was ist mit ihr? Manni kniet sich aufs Sofa, studiert die beiden silbergerahmten Fotos, die die etwa fünfjährigen Geschwister als Einzelporträts zeigen. Röttgens Schwester ist vermutlich direkt vor oder nach der Aufnahme des Gruppenbilds fotografiert worden, für das die vierköpfige Familie auf einer Frühlingswiese strammstand. Das Licht ist ähnlich und sie trägt dasselbe Kleid. Aber das Foto vom kleinen Röttgen selbst ist weniger rotstichig, etwas in seinem Blick passt nicht und statt des steif gebügelten Hemds trägt er auf dem Einzelporträt ein T-Shirt. Gab es in der Eifel in den 50er Jahren T-Shirts?
Mit zwei schnellen Griffen löst Manni das vermeintliche Kinderporträt des Priesters aus dem Silberrahmen, dreht es herum und pfeift durch die Zähne, als er den Datumsstempel auf der Rückseite entdeckt. Bingo! Das Foto ist gerade einmal ein Jahr alt. Es zeigt also nicht Georg Röttgen selbst – sondern einen Jungen, der seinem kindlichen Ich wie aus dem Gesicht geschnitten ist.
5. Teil
Warum denn ließest du mich aus
dem Mutterschoß kommen?
Ich wäre gestorben,
ohne dass ein Auge mich sah.
Hiob 10, 18
Sie hatte Gott nicht aufgegeben, nie. Sie hatte versucht, ihn zu verstehen. Sie hatte sich bemüht, gut zu sein, alles richtig zu machen, nach diesem einen Fehltritt. So wie sie dachte, dass er es wünschte. Und sie hatte gebetet: um Geld, eine Wohnung, um ein besseres, leichteres Leben für ihr Kind.
Aber Gott war nicht verlässlich. Manchmal erhörte er sie, meistens nicht. Und vielleicht hatte er ja recht damit, vielleicht war die Sünde, die sie begangen hatte, wirklich zu ungeheuerlich und alles, was folgte, war nur die gerechte Strafe dafür.
Hure, sagten sie, als sie behauptete, nicht zu wissen, wer der Vater des Kindes war. Hure, Schlampe, billiges Flittchen. Hat sich einen Bankert anhängen lassen. Und er tat nichts, sie zu erlösen, tat nichts für sein Kind. Und dann gab sie auf, konnte das Tuscheln nicht mehr ertragen, floh in die Stadt.
Es war nicht gerecht. Selbst Jesus hatte doch die gefallene Maria Magdalena angenommen. Aber vor allem tat es ihr unendlich weh für das Kind. Es konnte ja nichts dafür. Fragte nach seinem Papa. Spann sich aus ihren wenigen Geschichten Heldensagen zusammen. Wie gern hätte sie ihm ein besseres Leben beschert.
Komm, sagte sie, als Gottes Strafe sie noch heftiger traf. Komm, hör mir zu, ich muss dir ein Geheimnis verraten.
Mittwoch, 1. März
Der Duft von Kaffee und frisch geschälten Orangen weckt sie auf. Sie blinzelt und erkennt einen Schrank und ein mit einem Tuch verhängtes Fenster, durch das fahles Morgenlicht fällt. Karls Schlafzimmer, nicht ihr eigenes. Er stellt ein Tablett mit Tassen und Tellern auf einen Umzugskarton neben dem Bett und rutscht wieder zu ihr unter die Decke.
»Schläfst du noch, Frau Kommissarin?«
»Mmh. Ja.«
»Ich glaub dir kein Wort.«
Seine Haut ist warm, sein Körper fest und Judith wird weich unter seinen Händen, fließend. Sie lacht auf, rollt sich näher zu ihm und tut etwas, was sie sonst niemals tut, wenn sie Dienst hat: Sie schaltet ihr Handy aus und sie lieben sich noch einmal, wissender, gieriger, nicht mehr so vorsichtig wie in der Nacht.
»Und, hast du dich erkältet?«, fragt Karl später, als sie den inzwischen nicht mehr sehr heißen Kaffee trinken.
»Du hast mich prima aufgetaut.« Sie grinst ihn an, isst den letzten Orangenschnitz und greift nach ihrem Handy. Sobald sie es angeschaltet hat, meldet es mehrere Anrufe von Manni.
»Röttgen hat einen Sohn, du hattest recht«, sagt er, als sie ihn zurückruft. »Jedenfalls glaub ich, dass es sein Sohn ist. Ich hab in seiner Wohnung ein Foto von einem etwa fünfjährigen Jungen entdeckt, der ihm täuschend ähnlich sieht.«
»Wow! Gut.«
»Wo bist du? Kühn bläst zum Morgenappell!«
Sie steht auf, wirft Karl einen Luftkuss zu, sucht mit der freien Hand ihre Klamotten zusammen.
»Ich hab mit Beatrice Sollner geredet«, sagt sie und skizziert Manni die Eckpunkte ihres nächtlichen Gesprächs auf dem Friedhof.
»Wie passt das ins Bild?«, fragt er. »Was hat diese Vergewaltigung mit den Priestermorden zu tun?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet sie und fühlt auf einmal wieder diese seltsame Unruhe, ein diffuses Gefühl von
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