Farben der Schuld
Bedrohung, dessen Grund sie nicht versteht.
»Unser Gruftigirl ist ja wohl kaum die Mutter von diesem Jungen«, sagt Manni.
»Nein, wohl nicht.«
»Wir müssen diesen Jungen finden.«
»Und seine Mutter.«
»Vielleicht wissen Röttgens Eltern was. Und seine sauberen Priesterkollegen.«
»Was ist mit seiner Schwester?«
»Die ist wohl vor 16 Jahren nach Amsterdam gezogen und hat keinen Kontakt zu ihrer Familie mehr.«
»Interessant.«
»Yep.«
»Hat sie Kinder? Vielleicht lebt Röttgens Sohn ja bei ihr?«
»Meuser ist dran.«
»Pass auf Manni, ich beeil mich. Halt Kühn noch was hin, sag von mir aus, ich sei beim Arzt. Ich komme so schnell wie möglich ins KK.«
»Was hast du vor?«
»Ich fahr noch mal zu Ekaterina.«
»Wegen des Mädchens, ja?« Manni stöhnt.
»Ich beeil mich, okay?«
Sie zieht sich an, geht hoch in ihre Wohnung, holt die Walther und vertauscht die Turnschuhe gegen die inzwischen trockenen Stiefel. Die Prinzessin der Scheiben liegt noch aufgedeckt neben den anderen Tarotkarten auf dem Wohnzimmertisch. Die schwangere Frau. Fruchtbar. Weiblich. Was hat sie zu bedeuten, welche Rolle spielt sie? Der Buddha von Judiths Vater lächelt unbestimmt. Sie hat noch keinen Platz für ihn gefunden, sie weiß immer noch nicht, in welcher Farbe sie ihr Wohnzimmer streichen will, und dieses weiche, karamellbraune Ledersofa, das sie schon seit langem kaufen möchte, hat sie auch nicht bestellt.
Sie wirft ihren Mantel über, läuft die Treppe herunter und winkt einem Taxi. Allmählich geht das zu sehr ins Geld, aber sie wagt es noch nicht, mit ihrem lädierten Handgelenk ein Auto zu lenken. Sie lehnt sich zurück, schaut aus dem Fenster. Der Himmel ist schwer, ein graues Zwielicht liegt über der Stadt, als wollte es nicht richtig hell werden und würde gleich wieder regnen. In einigen Kübeln und Vorgärten leuchten Primeln und Narzissen. Die Innenstadt bleibt zurück und bald darauf passieren sie den Aachener Weiher. Das Wasser ist von einem stumpfen Hellgrün. Ein Schwärm Enten kreist darüber. Judith lehnt den Kopf an die Nackenstütze. Ich lebe, denkt sie. Ich will leben. Ich habe getötet, weil ich sonst nicht mehr leben würde. Vielleicht hat Hartmut Warnholz recht, es ist möglich, mit dieser Schuld zu leben. Schuld. Verantwortung, was auch immer es ist.
Ekaterina Petrowa ist nicht in ihrem Arbeitszimmer im Rechtsmedizinischen Institut und auch nicht im Leichenkeller. Nach einigem Hin und Her findet Judith die russische Ärztin im Labor. Sie mustert Judith mit einem forschenden Blick aus ihren kohlschwarzen Augen und wirkt in keinster Weise überrascht, dass sie so unangemeldet vor ihr steht.
»GHB«, sagt sie und konzentriert sich sofort wieder auf ihr Mikroskop.
»Die K.-o.-Tropfen meinst du.« Judith tritt hinter sie und unterdrückt ein Lächeln. Als Medizinerin ist Ekaterina gut, brillant um genau zu sein, doch Small Talk gehört eindeutig nicht zu ihren Talenten und man darf auf keinen Fall den Fehler machen, den von ihr zu erwarten, oder gar ihr mehr als eigenwilliges Verständnis von Mode anders als wohlwollend zu kommentieren oder nach ihrer Kindheit in Russland zu fragen, wenn man mit ihr zusammenarbeiten will.
»Gamma-Hydroxy-Buttersäure«, die Rechtsmedizinerin nickt. »Wird auch als Liquid Ecstasy bezeichnet. In einer Dosierung bis etwa 1,5 Gramm wirkt es euphorisierend und senkt die Hemmschwelle, bis etwa 2,5 Gramm bewirkt es gesteigertes sexuelles Verlangen, eine noch höhere Dosis führt zu Bewusstlosigkeit und fast immer ist die Folge der Einnahme eine starke Amnesie.«
»Die Opfer können sich an nichts erinnern.«
Ekaterina Petrowa murmelt etwas auf Russisch, das wohl Zustimmung bedeutet und verstellt eines der Rädchen am Mikroskop.
»Wo kriegt man das Zeug?«, fragt Judith.
»Am leichtesten als GBL, Gamma-Butyrolacton. Das ist ein industriell hergestelltes Lösungsmittel. Reinigungsfirmen benutzen das zum Beispiel, um Fassaden von Graffiti zu säubern. GBL ist billig und legal – es unterliegt nicht dem Betäubungsmittelgesetz.«
»Jeder kann das also kaufen.«
»Es gibt eine freiwillige Verpflichtung der Hersteller, die Abgabe zu kontrollieren.«
»Und es gibt das Internet. – Kannst du sagen, ob Beatrice Sollner damit oder mit GHB betäubt wurde?«
»Nein, kann ich nicht. Im Körper verwandelt sich GBL automatisch in GHB.«
Judith lehnt sich an einen der Tische. »Für die Kollegen von der Sitte sind Vergewaltigungen mit K.-o.-Tropfen inzwischen ein
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