Farben der Schuld
geflüchtet.
»Sie ist vergewaltigt worden.«
»Nun ja.« Die Frau presst die Lippen zusammen.
»Ich habe Grund zu der Annahme, dass dies auch Jana widerfahren sein könnte.«
Der Schock in den hellblauen Porzellanaugen ist echt. »Was sagen Sie da?«
»Vielleicht hat sie sich deshalb …«
»Da war dieser Junge, der sie einfach nicht in Ruhe ließ.« Jetzt ist der Schmerz in der Stimme ganz deutlich zu spüren. Der Schmerz und die Bitterkeit, vielleicht auch Hass.
»Fabian Bender?«
»Ja, so hieß er. Ein Malerlehrling aus einfachsten Verhältnissen. Die Mutter hat überhaupt nie gearbeitet und wohl auch nichts gelernt, lebte von Stütze, soweit ich weiß. Der Vater war schon lange über alle Berge.«
»Ich dachte, Fabian war Janas Freund?«
»Ganz sicher nicht. Darin waren Jana, mein Mann und ich uns einig.«
»Sie halten es also für möglich, dass er Jana vergewaltigte?«
»Es gab nie einen Abschiedsbrief, keine Erklärung.«
»Hatte Ihre Tochter sich vor ihrem Tod verändert?«
Edith Schumacher betrachtet das Ölgemälde. »Sie war ernster. Steckte oft mit dieser Beatrice zusammen. Hörte ganz grauenhafte Musik. Aber sonst?«
»Hat sie einmal von einem Lars erzählt? Lars Löwner?«
»Nein.«
Ich kann diese Frau nicht ertragen, denkt Judith. Die Trauer nicht. Die Ignoranz. Die Bitterkeit, die aus jeder ihrer Poren kriecht. Beatrice erinnert mich an Erri, wird ihr auf einmal klar. Radikal. Bedingungslos. Voller Hingabe. Sie erinnert mich an Erri, an Cora und an mich selbst, in einem früheren Leben.
Könnte ihre eigene Mutter erklären, was ihr diese Freundschaften bedeutet hatten? Weiß sie, was ihre Tochter sich mit 16 vom Leben erträumte und in wen sie verliebt war? Hör auf, Judith, bleib in der Gegenwart, bleib objektiv.
»Kinder erzählen Eltern nicht immer alles. Gerade in der Pubertät«, sagt sie zu Janas Mutter.
»Wir standen uns nah. Mein einziges Kind.«
»War Jana schwanger?«
»Wie kommen Sie dazu …?«
»Ihre Freundin vermutet das.«
»Beatrice, natürlich, das passt zu ihr.«
»Hat sie recht?«
»Nein.«
Es ist sinnlos. Sie vergeudet ihre Zeit. Warum bleibt sie trotzdem hier sitzen, was glaubt sie hier zu finden?
»Jana hat gesungen, nicht wahr?«, fragt sie und sehnt sich auf einmal nach Karl. Er könnte ein Freund werden, ein sehr guter Freund. Mehr. Liebhaber. Liebe. Keines der Worte trifft. Es ist noch zu früh.
»O ja, Jana hat gesungen. Sie hatte eine wunderbare Stimme. Wollen Sie mal hören?«
Ohne Judiths Antwort abzuwarten, steht Edith Schumacher auf und schaltet eine Stereoanlage ein.
»Zum Glück gab es ein paar Aufnahmen. Wir haben sie professionell bearbeiten lassen.« Sie hüstelt. In ihren Augen schwimmen Tränen. »Danach. Zur Erinnerung.«
Sie greift zu einer Fernbedienung, setzt sich wieder hin. Sie wirkt jetzt anders, beinahe erwartungsvoll, fast ein wenig kindlich.
Eine Orgel ertönt. Dann ein Chor. Klassik. Kirchenmusik, Judith weiß nicht, was, aber auf ihren Armen bildet sich Gänsehaut.
»Jana ist die Solistin.« Frau Schumacher regelt die Lautstärke hoch, exakt zu dem Zeitpunkt, in dem der Chor verstummt und nur noch eine einzige, lupenreine Sopranstimme zu hören ist.
»In welchem Chor hat Jana denn gesungen?«, fragt Judith, als das Solo vorbei ist.
»Sankt Pantaleon.« Janas Mutter lächelt. »Pastor Braunmüller war ein begnadeter Lehrer. Er hat Jana sehr gefördert.«
Ein guter Kampf verlangt Ruhe, Konzentration. Absolute Wachsamkeit, die aus absoluter Leere erwächst. Zanshin – kaltes Herz – sagen die japanischen Zen-Mönche dazu. Man muss diese Geisteshaltung trainieren, wieder und wieder. Doch falls er Zanshin überhaupt schon mal erreicht hat, jetzt scheitert er. Wut treibt ihn an. Lodernd. Brennend. Wut auf das Schweigen der Priester. Wut auf den duckmäuserischen Kühn, der sich weigert, einen Durchsuchungsbeschluss für den Verwaltungsapparat des Erzbistums Köln auch nur zu beantragen. Wut auf sich selbst, weil er Sonja nicht anruft und stattdessen ein weiteres Mal die nervtötende Jammerei seiner Mutter über sich ergehen ließ, die wie ein niemals versiegender Strom aus der Freisprechanlage quoll, während er zu Ruth Sollner fuhr.
Er schafft es nicht. Beherrscht es nicht. Zanshin oder was auch immer. Stattdessen denkt er absurdes Zeug: Heute sterbe ich. Die Zeit läuft ab. Was für ein Quatsch. Was für ein Quatsch!
»Also?« Manni lehnt sich vor, näher zu Ruth Sollner, die mit verschwollenen Augen vor ihm sitzt
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