Farben der Schuld
und ein Papiertaschentuch zerpflückt.
»Bitte! Ich habe Ihnen doch alles gesagt.«
»Nein!«
Er ist laut geworden, sehr laut. Ruth Sollner zuckt zurück, als habe er sie geschlagen.
Im Chinesischen bedeutet zan kaputt. Ein kaputtes Herz ist unbeweglich und kalt. Es wird nicht von Gefühlen überwältigt, wird nicht blind durch sie. Manni starrt Ruth Sollner an. Entschuldigt sich nicht. Fügt nichts hinzu. Lässt sie selbst zu der Erkenntnis gelangen, dass sie sich niemals verzeihen könnte, ihrer Tochter nicht geholfen zu haben, falls die wirklich stirbt.
»Denn wo du hingehst, da gehe auch ich hin, und wo du weilst, da weile auch ich; dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.« Sie spricht im Flüsterton, wie zu sich selbst. »Das Buch Ruth, Vers 16. Einer der größten Treueschwüre an die Freundschaft aus der Bibel.«
Er hat keine Zeit für Bibelkunde, Herrgott noch mal. Keine Zeit, keinen Bedarf. Er zwingt sich, das nicht laut zu sagen. Sieht Ruth Sollner nur immer weiter an.
»Mein Name, Freundschaft«, sie schluchzt auf. »Er hat mir kein Glück gebracht.«
»Ihre Tochter ist Ihr Volk.« Die Worte sind plötzlich da, mühelos, wie aus dem Nichts, und er liest in Ruth Sollners Augen, dass es die richtigen Worte sind.
»Ich weiß nichts von diesem Jungen, wirklich nicht.«
»Aber?«
»Hartmut Warnholz«, flüstert sie. »Ich habe ihm so sehr vertraut. Jetzt bin ich nicht mehr so sicher.«
»Warum?«
»Er wollte nicht, dass ich etwas von diesen anonymen Anrufen sage. Bea sagt, sie habe ihn nachts bei Sankt Pantaleon gesehen. Das hat mich misstrauisch gemacht.« Sie schlägt die Hände vors Gesicht. »Ich bin ihm gefolgt. Heimlich. Er hat eine Geliebte. Und ein Kind.«
Warnholz also. Warnholz der Polizeiseelsorger. Warnholz der Verständnisvolle, Liberale. Der Freund und Mentor von Röttgen und Leiter der Telefonseelsorge.
»Sag das noch mal«, fordert Judith Krieger, sobald Manni sie anruft. »Das glaub ich nicht!«
»Ich fahr jetzt zu dieser Frau und fühl ihr auf den Zahn.« Manni rührt im Zündschloss, bis sich die Schrottkarre erbarmt und mit einem asthmatischen Keuchen zum Leben erwacht, spornt sie dann unbarmherzig zu Höchstleistungen an.
Die Freisprechanlage überträgt, wie die Krieger sich eine Zigarette anzündet. »Ich kapier das nicht«, sagt die Krieger dann. »Selbst wenn Warnholz eine Geliebte hat – wieso sollte er Röttgen töten?«
»Vielleicht drohte Röttgen ihn zu verraten.«
»Obwohl er selbst ein Kind gezeugt hat, diesen Jungen? Warum?«
»Weil er mit zweierlei Maß misst?«
»Oder Warnholz ist nicht der Täter, sondern das nächste Opfer. Weshalb es auch nach Röttgens Ermordung noch Drohanrufe in der Telefonseelsorge gibt.«
Die Krieger verschluckt sich und hustet. Manni erreicht die Aachener Straße und kommt endlich schneller voran. Noch etwa zehn Minuten bis zu der Adresse, die Ruth Sollner ihm nannte. Warnholz' Geliebte. Sie muss etwas wissen. Sie muss etwas sagen. Das Schweigen brechen.
»Ich war bei der Mutter von Beatrice Sollners toter Freundin. Jana sang im Chor von Sankt Pantaleon. Braunmüller hat diesen Chor geleitet und sie wohl sehr protegiert«, sagt Judith Krieger.
»Der Braunmüller, der mit Warnholz und Röttgen im Streichtrio spielte und an einem Herzinfarkt gestorben ist?«
»Vielleicht war es ja kein Herzinfarkt.« Er hört, wie die Krieger Rauch inhaliert und gleich noch einmal hustet. Sie muss wirklich verdammt unter Strom stehen, das passiert ihr sonst nie.
Zanshin. Kalt bleiben. Sich frei machen. Abwägen, handeln. Er gibt noch mehr Gas.
»Okay«, sagt er, »okay. Nehmen wir mal an, jemand bringt Braunmüller um und ein halbes Jahr später auch Röttgen.
Warum? Hat auch Braunmüller ein verbotenes Kind gezeugt, ist das das Mordmotiv? Und was meint der Täter dann mit Mörder?«
»Vielleicht ist es ja abstrakt gemeint.«
»Meuser hätte also recht: Unser Unbekannter fühlt sich als heiliger Michael und verteidigt Gottes Moral mit dem Schwert?«
»Aber er vergewaltigt selbst ein Mädchen.« Die Krieger stöhnt. »Es passt alles nicht, passt hinten und vorne nicht.«
»Bleiben wir bei den Fakten. Dem Jungen. Seiner Mutter. Nimm dir jetzt Warnholz vor, Judith. Sichere seine DNA.«
»Ja, schon klar.«
Er biegt in die Straße ein, die Ruth Sollner ihm genannt hat, findet das Haus, das sie ihm beschrieb. Sieht die Schaukel im Vorgarten und den Jungen darauf.
»Shit«, sagt er, »shit, das glaub ich jetzt
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