Farben der Schuld
Betrunken. Vollkommen ungeübt darin, seine Gefühle zu artikulieren. Seine Frau hat ihn nach über zwanzig Jahren Ehe verlassen. Mühsam lockt Ruth das aus ihm heraus, während ein Teil ihrer Sinne sich zugleich auf die Räume der Telefonseelsorge konzentriert.
»Warten Sie bitte einen Augenblick, ich bin gleich wieder für Sie da.« Noch nie hat sie ein Beratungsgespräch auf diese Weise unterbrochen, aber jetzt kann sie nicht anders, weil da ganz eindeutig Schritte im Treppenhaus sind. Schritte, die vor der Seelsorge anhalten, und dann folgt ein Kratzen, als ob sich jemand am Schloss zu schaffen macht.
Angst, sie hat Angst, was soll sie tun? Die Polizei rufen, Licht machen, fragen, wer da ist? Wie gelähmt steht Ruth in dem dunklen Flur. Wie gelähmt hört sie das leise Kratzen eines Schlüssels – und zuckt geblendet zurück, als die Tür aufschwingt und das Licht angeht.
»Frau Sollner!«
Unfähig, sich zu bewegen, als stünde ein Geist vor ihr, starrt Ruth den Sprecher an. Es ist Priester Röttgen, der neue Leiter der Telefonseelsorge. Aber auch er erscheint nicht so selbstsicher wie sonst. Nervös befingert er seinen Priesterkragen und sein Atem geht schnell, als sei er gerannt.
»Dddas Telefon, ich bin mitten in einem Gespräch, ich wusste nur nicht …«, bringt Ruth heraus und stolpert zurück ins Beratungszimmer.
Der Betrunkene ist tatsächlich noch immer in der Leitung, mit großer Mühe gelingt es ihr, sich wieder auf das Gespräch einzulassen. Aber sie ist nicht bei der Sache, fühlt sich noch immer, als sei sie eben tatsächlich einer Gefahr entkommen, und das Wissen, dass jedes ihrer Worte auf dem Flur zu hören ist, macht sie noch nervöser.
»Sie brauchen Licht, das hab ich Ihnen doch schon mehrmals gesagt.« Kaum hat sie das Gespräch beendet, schaltet ihr Chef das Deckenlicht ein.
Ruth ist zu erschöpft, ihm zu widersprechen. Noch eine Stunde, dann übernimmt die Morgenschicht. Vielleicht hat sie ja Glück, und bis dahin bleibt das Telefon ruhig.
»Warum sind Sie so früh schon hier?«, fragt sie, weil ihr unter Röttgens Blick seltsam unwohl ist.
»Schlafstörungen.« Er geht zum Fenster, presst seine Stirn an die Scheibe. »Außerdem gibt es hier viel zu tun.«
Ruth wartet, bis er nebenan in seinem Arbeitszimmer verschwunden ist, wahrscheinlich, um nach weiteren Versäumnissen seiner Vorgängerin zu fahnden. Dann wischt sie mit einem Papiertaschentuch den feuchten Fleck von der Fensterscheibe, den seine Stirn dort hinterlassen hat.
Wieder klingelt das Telefon. Sie setzt sich zurecht, atmet tief durch.
»Telefonseel…«
»Ich bring dich um!«, zischt eine Männerstimme. »Du mieses Schwein!«
***
Um 5.45 Uhr reißt ihn das penetrante Fiepen des Weckers aus einem komaähnlichen Tiefschlaf. Manni wälzt sich aus dem Bett, hält im Badezimmer den Kopf unter den Wasserhahn und steigt in seine Joggingklamotten. Draußen nieselt es. Die Luft ist kalt und jetzt, vor dem Einsetzen des Berufsverkehrs, noch einigermaßen frisch. Manni macht ein paar halbherzige Dehnübungen und fällt in einen leichten Trab, zwischen den Glasfassaden der Hochhäuser im Mediapark durch, am künstlichen See vorbei, in dem sich um diese Uhrzeit nur wenige Lichter spiegeln, weiter durch die Unterführung und nach links in den Grüngürtel, wo er den Protest seines schlaftrunkenen Körpers ignoriert und das Lauftempo erhöht. Der erste Kilometer zieht sich wie immer in die Länge, auch der zweite ist heute nicht besser. Durchhalten, Mann, denk an den zweiten Dan. Manni legt einen kurzen Sprint ein, verlangsamt wieder, um durchzuatmen, sprintet dann sofort noch mal los, länger diesmal und schneller. Etwa beim vierten Kilometer hat er sich warm gelaufen und nun kommen auch die Gedanken zurück – Bruchteile von Ideen, Erinnerungen, Fragen, Ermittlungsansätzen. Manni erhöht sein Tempo, lässt die Gedanken kommen und wieder fliegen. Sankt Pantaleon. Der heilige Albanus. Jens Weiß. Seine trauernde Frau. Das seltsame Unbehagen, das den ersten Ermittlungstag begleitet hat. Als ob nichts ist, wie es scheint, als ob sie irgendetwas übersehen. Dann, plötzlich, scheint nur noch sein Körper zu existieren, ein perfekt funktionierender Mechanismus, und Atmen und Laufen werden ein und dasselbe.
Das erste Dämmergrau hängt über den Dächern, als er eine knappe Dreiviertelstunde später wieder den Mediapark durchquert. Manni verlangsamt sein Tempo nicht, nimmt auch die Treppen zu seiner Wohnung im Laufschritt. Es
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