Farben der Schuld
Zitrusgeruch hängt in der Luft. Viel zu spät sei ihre Tochter zum Putzen gekommen, hat Marianne berichtet, als Ruth sie ablöste, weit nach 20 Uhr. Aber Beatrice ist gekommen, denkt Ruth jetzt, während sie ihre Hände wäscht und das Waschbecken anschließend mit einem Papierhandtuch poliert. Und allein dafür will ich schon dankbar sein.
In der Küche gießt sie eine Kanne grünen Tee auf und isst einen fettreduzierten Erdbeerjoghurt. Das Telefon im Beratungszimmer ist immer noch still, auch aus den anderen Wohnungen und Büros des Gebäudes ist kein Laut zu hören. Ruth tritt ans Fenster und betrachtet die nächtliche Stadt. Kaum jemand weiß, wo sich die Telefonseelsorge befindet, im dritten Stock eines unscheinbaren Mietshauses, unweit des Doms, in einer schmalen Gasse hinter dem Park des Priesterseminars. Doch für die Anrufer ist dies egal. Für sie bleiben Ruth und die anderen Mitarbeiter der Telefonseelsorge nichts weiter als Anteil nehmende Stimmen. Nie stellen sich die Berater mit Namen vor, nie wird die Postanschrift der Telefonseelsorge nach außen kommuniziert. Und auch die Ratsuchenden müssen ihre Identität nicht preisgeben oder fürchten, dass ihre Telefonnummern in der Seelsorge angezeigt werden. Diskretion und Anonymität sind die wichtigsten Gebote für ein vertrauensvolles Gespräch.
Ruth wirft den Teebeutel in den Abfalleimer und trägt die Kanne zurück ins Beratungszimmer. Nach dem Morgen im Büro und der verunglückten Mahlzeit mit ihrer Tochter, ist sie ins Bergische Land zu ihrer Schwester Eva gefahren, um ihr mit ihren an Windpocken erkrankten Kindern zu helfen. Bis in den Abend hinein hat das gedauert und danach ging es ohne Pause in der Telefonseelsorge weiter und all die Geschäftigkeit hat sie von ihren eigenen Sorgen abgelenkt. Jetzt aber, in der ersten ruhigen Minute, kommen sie zu ihr zurück. Die Angst, dass sie in den nächsten drei Monaten keinen neuen Job finden und dann zur Hartz-IV-Empfängerin wird. Die Angst um Beatrice natürlich, wie eine schwärende Wunde. Die Enttäuschung, dass Stefan seiner Tochter so ein schlechter Vater ist. Beatrice trinkt zu viel, driftet ab und ist völlig unzugänglich für jede Art von Hilfe, sie versucht Ruth zu provozieren, wie es nur geht, so wie mit dem dummen Gerede über den toten Priester.
Es war nur eine Provokation, redet Ruth sich zu. Sie ist noch in der Pubertät, und dann der Tod von Jana vor zwei Jahren und ein Vater, der kurz nach ihrem dreizehnten Geburtstag einfach ausgezogen ist. Aber Ruths Unruhe bleibt trotzdem, scheucht sie ein weiteres Mal zu dem Anrufbeantworter des Büros, lässt sie erneut ihr Handy kontrollieren. Nichts, immer noch hat sie keine Nachricht von Hartmut Warnholz. Und warum sollte er dich auch jetzt zurückrufen, mitten in der Nacht, um vier Uhr früh, schilt sie sich stumm. Ihm wird schon nichts passiert sein, er ist sicher einfach nur zu spät heimgekommen, um deinen Anruf noch zu beantworten, jetzt schläft er und meldet sich morgen früh.
Ruth trinkt ein paar Schlucke Tee, steht dann wieder auf. Der Umriss des Parks hinter dem Priesterseminar ist um diese Uhrzeit nur als schwarze Fläche auszumachen. Die Fenster der meisten Häuser sind dunkel. Als sei sie ganz allein auf der Welt, fühlt Ruth sich auf einmal. Die einzige lebende Person. Wie hinter Glas gefangen oder in einem Raumschiff. War da gerade ein Geräusch im Treppenhaus, waren da Schritte? Nein, jetzt ist alles still. Ruth setzt sich wieder vor das Seelsorgetelefon, schaltet die Lampe aus und betrachtet den warmen Lichtkegel der Kerze. Wer wird als Nächstes anrufen? Jemand, dessen Stimme und Schicksal sie schon kennt oder ein Erstanrufer, wie die Frau mit der Aidserkrankung? Was wird Ruth hören, wenn das Telefon das nächste Mal klingelt? Weinen, Stöhnen, Fluchen, Beschimpfungen, Klagen? Sie hat auf ganz neue Art zu hören gelernt, seit sie hier arbeitet. Sie hört inzwischen auch das Nichtgesagte, kann erkennen, ob der Ort, von dem aus der Anruf kommt, eng oder groß ist, sie hört auch das, was die Anrufer selbst gar nicht mitteilen wollen: tropfende Wasserhähne, Klospülungen, Flaschenklirren, gedämpftes Schlurfen, fast so, als sei sie blind.
Wieder glaubt sie ein Geräusch im Treppenhaus zu hören, doch beinahe im selben Moment klingelt das Telefon.
»Telefonseelsorge, guten Morgen.« Ihre Stimme klingt professionell, verrät nichts von der Angst, die ihr plötzlich den Rücken hochkriecht.
Der Anrufer ist ein Mann.
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