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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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einmal mehr zurück in ihr Wohnzimmer. Eingesperrt fühlt sie sich, abgeschnitten, kaltgestellt. Sie sehnt sich nach etwas, ohne sagen zu können, wonach. Sie hat geduscht, eingekauft und gefrühstückt. Sie hat einen Termin bei der Friseurin mit der grünen Wand vereinbart, einen bei der Physiotherapie und eine weitere Nachricht auf Millstätts Handy hinterlassen. Sie hat die Schmerzen in ihrem Handgelenk ignoriert und ihrem Strickschal einen türkisfarbenen Streifen hinzugefügt. Und die ganze Zeit hat sie versucht, nicht an das Abendessen mit Manni zu denken, das ihr gezeigt hat, wie machtlos sie ist, wenn die Erinnerungen sie zurück in das Haus katapultieren. Ausgelöst durch ein Streichholz, einen Luftzug, ein Geräusch, einen Geruch.
    Die Tarotkarte, die sie gestern gezogen hat, liegt auf dem Sofa. Neuanfang ist ihre Botschaft. Überwindung der Furcht. Der Schwanz des Tigers schmiegt sich um den Hals der Prinzessin. Nackt tanzt sie in der gelbgrünen Flamme, zieht den Tiger hinter sich her. Ein Raubtier, das sie vernichten könnte, doch statt dies zu tun, gehorcht es ihr.
    Irgendwo in ihrer Wohnung gibt es bestimmt eine Streichholzschachtel. Judith durchsucht ihren Sekretär, wird schließlich in der Küche fündig. Schocktherapie. Konfrontation. Vielleicht hilft ihr das. Vielleicht muss sie einfach nur wieder und wieder auf die Straße gehen, ins Polizeipräsidium, in Restaurants, um die Kontrolle zurückzugewinnen. Oder noch einmal in dieses Haus. Sie schüttelt ein Streichholz aus der Schachtel, atmet tief durch, zieht es über die Zündfläche. Ratsch. Augenblicklich beschleunigt ihr Herzschlag. Selbst wenn sie die Flamme selbst entzündet, bringt sie den Geschmack der Panik zurück.
    Nicht dienstfähig. Traumatisiert. Sie muss keine Psychologin sein, um diese Diagnose zu erstellen. Post Shooting Trauma lautet der Fachbegriff für das, was mit ihr passiert. Ihre Seele hält nicht aus, was ihr widerfuhr, durchlebt es immer wieder aufs Neue. Ein Zustand, der Tage, Wochen, Monate andauern kann – oder ein ganzes Leben. Sie kennt ein paar traurige Beispiele von Kollegen dafür. Ich will das nicht, denkt sie wild. Ich will leben.
    Schnell, bevor sie es sich wieder anders überlegen kann, tippt sie die Handynummer des Polizeiseelsorgers ins Telefon. Vielleicht meldet sich auch hier ein Anrufbeantworter. Vielleicht ist Warnholz tot, vielleicht ist er das Opfer, mit dem Manni sich rumschlägt, das wäre doch eine perfide Ironie.
    »Warnholz, ja bitte?«
    Dieselbe warme Stimme, diesmal nicht vom Band. Auch wenn sie die Nummer gewählt hat, war sie nicht darauf vorbereitet und weiß plötzlich nicht, was sie sagen soll. Zögernd tastet sie sich vor. Fragend.
    »Ich will diese Angst nicht mehr«, sagt sie, als sie Warnholz später in einem Südstadtcafé gegenübersitzt. Spontan hat er ihr dieses Treffen angeboten. Eine halbe Stunde, zwischen zwei Terminen. Ganz offenbar betrachtet er den Fall Judith Krieger als dringende Angelegenheit.
    »Angst, wovor?« Locker gefaltet liegen seine Hände auf dem Tisch. In seinem braunen Shetlandpullover und der schwarzen Cordhose wirkt er eher wie ein Psychologe als wie ein Priester. Seine dunklen Augen ruhen freundlich und offen auf ihr, und doch ist sie sicher, dass ihnen nichts entgeht.
    »Ich sehe die Bilder aus diesem Haus, wieder und wieder. Ich kann mich nicht dagegen wehren«, sagt sie.
    »Das ist eine vollkommen normale Reaktion.«
    »Mag sein.« Sie trinkt einen Schluck Milchkaffee. »Aber das hilft mir nicht.«
    »Was genau macht Ihnen am meisten zu schaffen?«
    »Ich wollte eine Zeugin befragen. Wenn ich das nicht getan hätte, würde sie noch leben. Dann wäre das alles nicht passiert.«
    »Sie wären um ein Haar selbst gestorben.«
    »Ich habe getötet.«
    »Schuld.« Warnholz sieht sie an. »Geht es darum?«
    »Ja«, sagt Judith sehr leise. »Auch.« Und für den Bruchteil einer Sekunde muss sie wieder an ihren toten Vater denken. An das Foto, das sie auf seinen Knien zeigt, an ihr gemeinsames Lachen. Vielleicht war das eine Ausnahmesituation, doch die Liebe in seinen Augen wirkt echt, genau wie ihr eigenes kindliches Strahlen. Was hat ihr Vater empfunden, als er seine Sachen packte und ging, was hat er seiner Tochter zum Abschied gesagt? Zerbrochenes Glück. Vermutlich hat sie die Tragweite als Dreijährige überhaupt nicht verstanden. Doch irgendwann muss sie trotzdem begriffen haben, dass dies ein Abschied für immer war.
    »Vielleicht hatten Sie keine andere

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