Farben der Schuld
jetzt entdeckt Warnholz das Chamäleon und Bat bereut augenblicklich, dass sie ihn darauf aufmerksam gemacht hat.
»Ein echtes Chamäleon.« Im Gegensatz zu ihrer Mutter scheint sich der Priester nicht vor den Würmern zu ekeln und tritt einen Schritt näher.
Bats Magen beginnt zu rumoren. Was will er von ihr?
»Wie heißt er denn?«, fragt Warnholz und betrachtet Penti offenbar ernsthaft fasziniert.
»Sie! Penthesilea.«
»Ein großer Name.«
»Sie war die Stärkste. Die Mächtigste. Die Amazonenkönigin.«
»Sie war ein Mensch. Achill hat sie besiegt.«
»Gar nicht, sie war stärker als er.«
»Du meinst das Drama von Kleist: Penthesilea.«
»Mir egal, wie das heißt.«
Der Zeigefinger des Priesters schiebt sich auf das Chamäleon zu.
»Darf ich?«
»Nein!«
Er zieht seine Hand wieder zurück. »Penthesilea hat sich in Achill verliebt.«
»Na und? Sie hat sich eben nichts vorschreiben lassen und sich genommen, wen oder was sie wollte.«
Der Priester nickt, aber es wirkt, als ob er Bats Worte abwäge, nicht so als stimme er ihr zu.
Bat klappt die Dose mit den Mehlwürmern zu. Penti darf nicht zu viele Würmer fressen, weil die zu viel Fett enthalten. Sie muss ihr neue Heuschrecken kaufen, gleich sofort.
»Beatrice, deine Mutter macht sich Sorgen um dich und ich glaube, sie hat recht. Ich glaube, etwas belastet dich.«
Schwafel. Laber. Was soll das hier werden – Psychologen-blabla? Ganz offensichtlich, ja, denn Warnholz schwafelt einfach immer weiter, lädt sie sogar in eine katholische Jugendgruppe ein. Bat stellt die Dose auf die Kommode.
»Ich hab keine Zeit hier rumzuquatschen, ich muss gleich weg.«
Der Priester macht keinerlei Anstalten sich zu bewegen. Als hätte er sie gar nicht gehört.
»Hauen Sie ab, lassen Sie mich in Ruhe!« Bat reißt ihren Kleiderschrank auf. »Ich zieh mich jetzt um oder stehen Sie auf nackte Mädchen?«
Das wirkt, jetzt bewegt er sich. Doch an der Zimmertür bleibt er noch mal stehen.
»Am Ende hat Penthesilea auch in Kleists Drama alles verloren.«
»Hat sie nicht!«
»Sie hat Achill geköpft, obwohl sie ihn liebte.«
»Ist doch egal.«
»Sie ist danach wahnsinnig geworden.«
Sehr leise zieht er die Tür hinter sich zu.
***
Die Berge Nepals sehen entsetzlich karg aus, auch der azurblaue Himmel vermag das nicht zu ändern. Fels und trockene Erde verlieren sich im kalten Weiß der Achttausender. Kein Pfad ist zu sehen, keine Siedlung, kein Lebewesen. Judith schlägt die nächste Seite des Bildbands auf: Geröllhaufen und Gebetsfahnenfetzen. Ein schiefes Steintempelchen. Staub. Sie versucht sich vorzustellen, was ihren Vater dazu bewogen hat, sich in diese lebensfeindliche Landschaft zu begeben, was er dort suchte. Sie schafft es nicht. Es erscheint wahnsinnig, vollkommen verrückt, zumal er kein Bergsteiger war und wohl auch kaum die nötige Ausrüstung besaß.
Sie schlägt das Buch zu und dreht sich eine Zigarette. Sie hat ihren Vater nie vermisst, jetzt fühlt sie zum ersten Mal so etwas wie Bedauern, dass ihr von ihm nicht einmal der Nachname und nicht ein Hauch einer Erinnerung geblieben ist. Sie zündet die Zigarette an und geht damit auf ihre Dachterrasse. Es ist kurz vor Mitternacht, viele Fenster sind schon dunkel, einige leuchten gelb, andere in bläulichem Fernsehlicht. Sie fragt sich, wie viele Menschen hinter diesen Fenstern allein sind und wie viele nicht und sich trotzdem weit weg wünschen. Sie fragt sich, wie viele Menschen wohl gerade glücklich sind.
Die letzte Luft, die ihr Vater geatmet hat, muss sehr dünn gewesen sein und eisig kalt. Aber vielleicht hat er das überhaupt nicht bemerkt, vielleicht fühlte er sich den Göttern nah, oder es hat ihn getröstet, dass das Letzte, was er gesehen hat, der Himmel war: übersät von Sternen, zum Greifen nah.
Sie friert plötzlich und geht wieder ins Wohnzimmer. Blättert durch ihre CDs, legt dann doch keine auf. Sie sollte ins Bett gehen, schlafen, sich ausruhen, aber sie fühlt sich rastlos, fast so, als würde sie schon wieder ermitteln. Irgendein Part ihres Hirns muss aus reiner Gewohnheit die Tatortfotos von Millstätts Magnetbord memoriert haben, sie sieht sie vor sich, kann sie im Geiste noch einmal betrachten, und das bringt die Erinnerung an Sankt Pantaleon zurück.
Angst hat sie gefühlt, als sie auf die Kirche zuging. Panik. Eine Ahnung, ach was, ein instinktives Wissen, dass von Sankt Pantaleon eine Gefahr ausgeht, tödliche Gefahr. Es war dasselbe Gefühl wie in der Nacht
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