Farben der Schuld
zuvor, und im Inneren der Kirche wurde es sogar noch stärker. Aber wie kann sie dieser Wahrnehmung vertrauen, wie kann sie sich selbst noch vertrauen, wenn diese mandelkerngroße Stelle in ihrem Hirn ihr neuerdings völlig willkürlich Gefahren signalisiert, die es gar nicht gibt?
Judith geht in die Küche und entkorkt eine Flasche Merlot. Mein Vater hat uns verlassen, um die Welt zu bereisen, und ist nie mehr zurückgekehrt, denkt sie. Ich bin in ein Haus gegangen, um eine Zeugin zu vernehmen und eine halbe Stunde später war diese Zeugin tot, und ich habe ihren Mörder getötet. Ist das Schuld, hätte ich das voraussehen können und also verhindern? Ist mein Vater schuld an seinem Tod? Hat er mich geliebt und vermisst und vorgehabt zurückzukehren? Ist es überhaupt möglich, das im Nachhinein zu entscheiden? Sie kann sich nicht daran erinnern, dass ihre Mutter je um den Verlust ihres ersten Ehemanns getrauert hätte. Schnell, sehr schnell trat Wolfgang Krieger in ihr Leben. Einen Monat vor Judiths fünftem Geburtstag wurden die beiden getraut. Judith hatte Blumen in den Gang zwischen den Kirchenbänken gestreut, obwohl sie diesen neuen Mann nicht mochte, und als er mit ihrer Mutter am Arm auf die zarten Blüten trat, begann sie zu weinen. Du hast uns die Hochzeit verdorben, hat ihre Mutter später geschrien.
Judith betrachtet das Foto ihres Vaters. Thomas Engel, Z5. Er lacht sie an, herausfordernd wie immer. Sie pfropft den Korken zurück in die Weinflasche, nimmt ihre Hausschlüssel und tritt ins Treppenhaus. Vielleicht hat Hartmut Warnholz tatsächlich recht: Es geht nicht darum, zu erklären, was geschehen ist, es geht nicht darum, zu überlegen, wie es anders hätte sein können, sie muss, was passiert ist, einfach akzeptieren.
Sie macht kein Licht an, zieht einfach die Wohnungstür hinter sich zu und setzt sich im Dunkeln auf die Stufen. Mit jeder Sekunde werden die Geräusche des Hauses deutlicher. Entfernte Musikfetzen, Fernsehstimmen. Eine Tür wird geöffnet und schlägt wieder zu. Musik und Farbgeruch wehen zu ihr hinauf. Judith umfasst den Hals der Weinflasche fester, kühl und glatt liegt er in ihrer Hand. Sie drückt auf den Lichtschalter, geht die Treppe hinunter, Stufe für Stufe, bis sie vor Karl Hofers Wohnungstür steht.
Jetzt hört sie es genau, die Musik kommt von ihm. Ein Klavierkonzert, sehr dramatisch. Beethoven vielleicht oder irgendein Russe.
Judith drückt auf die Klingel, hört schnelle Schritte, die Tür fliegt auf.
»Sie sind ein Nachtmensch. Wie ich.« Karl Hofer lächelt.
»Waren Sie schon mal in Nepal?«
»Tatsächlich, ja, ich hab da vor zehn Jahren fotografiert.«
Judith hält die Weinflasche hoch. »Erzählen Sie mir davon.«
***
Wie aus weiter Ferne hört Manni das Handy. Er ist gerade eingeschlafen, kapiert erst nicht, wo er ist. Sonja bewegt sich neben ihm, murmelt etwas Unverständliches. Sonja. Sonjas Hochbett. Freitagnacht. Das Fiepen wird lauter, Manni tastet danach. Blind. Mit der Linken. Da – endlich, da ist es. Aber er bekommt es nicht zu fassen, das verfluchte Mistding flutscht einfach weg.
Es kracht äußerst ungut, das Fiepen verstummt. Scheiße, verdammte, elender Mist! Manni versucht, seinen rechten Arm unter Sonjas Nacken herauszuziehen. Sie rollt sich herum und umarmt ihn. Haucht ihm einen Kuss auf den Hals.
»Geh nicht!«
»Ich hab Bereitschaft.«
Er löst sich von ihr und klettert die Leiter herunter. Die Holzdielen sind kühl und glatt unter seinen Fußsohlen. Das Adrenalin überlagert die Müdigkeit. Ein Schub schlechter Laune kommt hinzu. Die drei Ritter von den Wolkenburg-Fotos waren ein Flop, alle haben ein Alibi und versicherten glaubhaft, dass sie Jens Weiß nicht einmal kennen. Vielleicht liegt Erwin Bloch also tatsächlich richtig, wenn er darauf beharrt, keinem der dreien bei Sankt Pantaleon begegnet zu sein.
Wo ist das verdammte Handy, was ist passiert? Es ist kurz nach Mitternacht, um diese Zeit ruft ihn niemand an, es sei denn die Kollegen. Mitternacht. Der Gedanke, was das bedeuten kann, pumpt noch mehr Adrenalin in Mannis Körper. Er tastet sich zu Sonjas Schreibtisch vor und schaltet die Klemmleuchte ein. Der Aufprall hat sein Mobiltelefon in Einzelteile zerlegt, er klaubt sie zusammen, findet den Akku auf Knien rutschend in einem Nest Staubflusen unter dem Sofa, um das sie vor zwei Stunden ihre Klamotten verteilt haben.
Er schiebt den Akku ins Handy, puzzelt die restlichen Teile an ihren Platz.
»Komm schon!« Er flucht mit
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