Farben der Schuld
ihn?«
»Mögen?« Endlich, der Knoten ist auf. Ruth stopft das Halstuch in ihre Handtasche.
»Georg Röttgen war Ihr Chef. Mochten Sie ihn?«
»Er war immer sehr korrekt und sehr kompetent.« Sie wird nicht sagen, dass alle über ihn stöhnten und sich von ihm gegängelt fühlten, sie wird auch ihren dummen nächtlichen Streit über die Beleuchtung nicht erwähnen. Ruth senkt den Blick auf ihre Hände. Man soll den Verstorbenen nichts Böses nachsagen, es bringt ja nichts mehr.
Dienstpläne, Aufgabenbereiche, Gewohnheiten der Mitarbeiter, Freundschaften, Feindschaften. Der Kommissar lässt nicht locker, alles will er wissen. War Georg Röttgen beliebt? Fühlte er sich bedroht? Hatte er sich in letzter Zeit verändert? Hatte er Streit, bekam er seltsame Anrufe? Vielleicht sollte ich ihm sagen, wie Röttgen neulich Nacht in die Seelsorge kam, wie gehetzt er da wirkte, beinahe ängstlich, überlegt Ruth. Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Doch andererseits war in dieser Nacht noch dieser Drohanruf gekommen, und kurz davor
hatte
Röttgen am Fenster gestanden und sie
hatte
sich gefürchtet, und nun ist Röttgen tot.
»Wie ist er gestorben?« Die Frage platzt aus ihr heraus, sie wollte sie gar nicht stellen. Erschrocken schlägt Ruth sich die Hand vor den Mund.
»Er wurde erstochen.« Etwas in den Augen des Kommissars erinnert sie plötzlich wieder an Stefan.
»Erstochen«, echot sie leise und denkt an den Toten von Sankt Pantaleon und an ihre kahlgeschorene, schwarz gekleidete Tochter, die vor nichts Respekt hat und über Priester Witze reißt. Die sich betrinkt und den Tod verklärt und ein Messer besitzt. Ein sehr scharfes Messer mit sehr scharfer Klinge, das sie in ihrer Manteltasche bei sich trägt, manchmal auch in ihrem Rucksack, was Ruth natürlich nicht kontrollieren sollte, aber andererseits benimmt sich Bea nicht wie eine Erwachsene, auch wenn sie achtzehn ist, sie braucht noch Fürsorge, sie … Röttgen ist ein geiler, alter Bock. Der glotzt mir immer so auf den Arsch, hat Bea neulich behauptet, um sie zu provozieren, auf einmal fällt Ruth das ein.
»Was hat Ihre Tochter gemacht, nachdem sie hier geputzt hat?«, fragt der Kommissar, fast kommt es Ruth so vor, als könne er ihre Gedanken lesen.
»Ich weiß es nicht.« Wieder schießt ihr die Hitze ins Gesicht. »Wahrscheinlich hat sie noch Freunde besucht.«
Oder sie hat mit den Punks auf der Domplatte herumgelungert und sich besoffen und die Passanten angebettelt oder sie war auf dem Friedhof oder … Stopp, lieber Gott, hilf mir! Bea ist ein gutes Mädchen, nur etwas verwirrt. Sie hat gestern gearbeitet und sich danach amüsiert. Wahrscheinlich hat sie bei diesem Fabian übernachtet. Oder bei einer Freundin oder …
»Wie alt ist Ihre Tochter?«
»18.«
»Ich muss mit ihr sprechen«, sagt der Kommissar.
Sie hört ihr Handy wie aus weiter Ferne. Es spielt Queen, ihre Dienstmelodie. In ihrer Wohnung ist es taghell. Der Himmel vor den Fenstern ist weißlich, diffus. Spread your wings and fly away. Das Handygefiedel wird lauter, dringlicher. Judith stolpert ins Wohnzimmer, noch ganz benommen von der ersten traumlosen Nacht ohne Tabletten seit langem.
»Wir brauchen dich heute schon, kannst du für ein paar Stunden kommen?«
Der Anrufer ist Millstätt, im Hintergrund hört Judith Telefonklingeln und Stimmengewirr.
»Was ist passiert?« Sie ist nackt, auf ihren Armen bildet sich Gänsehaut.
»Noch ein Mord nach dem gleichen Schema. Diesmal ist das Opfer tatsächlich ein Priester, der Leiter der Telefonseelsorge. Und wir sind durch die Grippe stark dezimiert …«
»Dieselbe Botschaft?«
»Ja.«
Mörder. Kann ein Priester zum Mörder werden? Ja, warum nicht, denkt sie, er ist ein Mensch. Man darf einem Mörder nicht lange in die Augen sehen, genauso wenig wie einem Opfer mit akutem Trauma – ein älterer Kollege hat ihr das ganz am Anfang im KK 11 mal gesagt. Hüte dich vor diesem Blick, weil er ein Strudel ist, ein Sog in den Abgrund, in dem du dich verlierst. Judith zieht sich an, schminkt sich die Lippen und mustert sich im Spiegel. Ihre Augen sind ernst, die Iris sind zweifarbig: grau mit blauem Rand. Nichts an diesen Augen kommt ihr anders vor als früher. Nichts in ihnen verrät, was geschehen ist.
Die Luft draußen ist eisig, das Weiß des Himmels gleißend, fast wirkt es so, als würde die Sonne es durch den Hochnebel schaffen. Judith schiebt die Hände in die Parkataschen. Sie ver-misst ihren Ledermantel und die
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