Farben der Schuld
Geisterhaftes. Judith sortiert die Fotos wieder ein. Letzte Nacht bei ihrem Nachbarn war sie so entspannt wie schon lange nicht. So entspannt, dass sie sich für den heutigen Abend gleich noch einmal mit ihm verabredet hat. Sie haben zwischen Umzugskartons auf dem Boden gesessen, geredet und Wein getrunken. Einige der Nepal-Fotos, die Karl Hofer ihr zeigte, waren klassische Reportageaufnahmen. Doch dann holte er noch Schwarzweißfotos, die er mit einer Lochkamera aufgenommen hatte, einer Camera obscura, und die wirkten vollkommen anders, archaischer, mystischer, wie nicht ganz von dieser Welt.
Ein Lochkamerafoto sei unschärfer als das wirkliche Motiv und zugleich konzentrierter, hatte er ihr erklärt. Es sei ein Abbild der Realität, die man mit bloßem Auge so niemals sieht, mache zum Beispiel auch Bewegung sichtbar, friere sie förmlich ein. Man brauche Geduld für diese Art Fotografie. Müsse die Lichtverhältnisse sehr genau berechnen und viele Minuten lang belichten, oft sogar eine Stunde lang. Wähle man eine zu kurze Belichtungszeit, würden manche Motive überhaupt nicht sichtbar. Belichte man zu lange, würde alles von weißem Licht überstrahlt.
Judith schlägt den vorerst letzten Ordner der Soko Priester auf. Er enthält noch nicht viel, nur eine Liste mit den Personaldaten der Mitarbeiter der Telefonseelsorge, doch ein Name springt ihr sofort ins Auge: Hartmut Warnholz. Der Mann, von dessen Rolle in ihrem Leben im KK 11 niemand wissen soll.
Das Priesterseminar scheint den Stadtlärm regelrecht zu verschlucken. Stille empfängt sie in seinem Inneren, eine ganze Rabatte in Öl porträtierter Heiliger glotzt ihnen entgegen.
»Regens Johannes Ribusch – guten Tag.«
Ein silberhaariger Mann, dessen dunkelgraues Priesterhemd über dem Bauch spannt, eilt herbei, begrüßt sie mit Handschlag und dirigiert sie in einen blitzblank polierten Flur. Ihre Schuhsohlen quietschen leise, von irgendwoher riecht es nach verkochtem Gemüse. Sie passieren einen Glastrakt, der den Blick auf einen gepflegten Innenhof freigibt, und werden kurz darauf vom Regens in ein Zimmer mit violetter Couchgarnitur eskortiert. Der Priesterschüler Markus Fuchs, der den ermordeten Georg Röttgen gefunden hat, sitzt dort bereits mit im Schoß gefalteten Händen und wirkt jetzt bei Tageslicht noch viel milchgesichtiger als in der Nacht. Wie ein kaum der Pubertät entwachsener Chorknabe sieht er aus. Ganz und gar nicht wie ein junger Mann, der in nicht allzu ferner Zukunft als Oberhirte einer Gemeinde vorstehen soll.
»Benedikt Ackermann, ein enger Mitarbeiter des Kardinals, wird gleich noch zu uns stoßen.« Regens Ribusch deutet mit einladender Geste zur Sitzgruppe. »Möchten Sie Kaffee?«
»Ja.« Kaffee und vor allem ein paar brauchbare Antworten und das möglichst schnell. Manni wirft einen Blick aus dem Fenster, von dem aus man das Palais des Kardinals und den dahinter liegenden Park betrachten kann. Ein Gärtner fegt die Wege, obwohl sie tadellos sauber sind. Am Ende des Parks hinter der hohen Backsteinmauer verläuft die schmale Gasse, in der sich die Räumlichkeiten der Telefonseelsorge befinden. Auch Röttgens Wohnung ist nicht weit entfernt. War er zum Zeitpunkt seiner Ermordung mit jemandem aus dem Priesterseminar verabredet? Wurde er zur Telefonseelsorge gerufen? Keineswegs, wenn man den Beteuerungen der bislang befragten Personen glauben darf.
»Eine Oase der Ruhe, eine Quelle der Kraft.« Der Regens tritt neben Manni und reicht ihm eine Kaffeetasse. »Unser Park ist die größte zusammenhängende Grünfläche der Innenstadt, wussten Sie das? Biologen haben hier vor ein paar Jahren sogar eine Goldkäferpopulation entdeckt.«
Goldkäfer, na fein. Das ist doch mal was. Manni setzt sich dem Priesterschüler Fuchs gegenüber. Wieso kommen erwachsene Männer auf die Idee, sich eine lila Sofagarnitur zu kaufen? Wieso will so ein Milchgesicht wie Fuchs für den Rest seines Lebens auf Sex verzichten?
»Sie waren also um kurz nach 24 Uhr auf dem Weg vom Hauptbahnhof zum Priesterseminar, als sie Georg Röttgen fanden«, sagt Manni.
Markus Fuchs nickt. »Ich kam zu Fuß vom Bahnhof, auf dem Rückweg von einer Familienfeier, und bin praktisch über ihn gestolpert – ich habe ihn sofort erkannt. Erst vor ein paar Tagen hatte er hier im Seminar mit uns über die Arbeit der Telefonseelsorge gesprochen.«
»Und?«
Der Priesterschüler guckt verdattert. »Und?«
»War er Ihnen sympathisch?«
»Ja, ja, natürlich. Er war ein
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