Farben der Schuld
Röttgen als Kind mit Schwester und Eltern zeigen. Zwei weitere, kleinere Bilder in schlichten Silberrahmen zeigen denselben Jungen und dasselbe Mädchen als Einzelporträts. Auf dem letzten Bild posiert der erwachsene Röttgen mit seinen gealterten Eltern vor dem Kölner Dom. Alle drei lächeln verkrampft in die Kamera.
»Manni!«
Der Unterton in Ralf Meusers Stimme sorgt dafür, dass Manni augenblicklich reagiert. In zwei langen Schritten ist er bei ihm und betrachtet die Seite des Fotoalbums, die der Kollege aufgeschlagen hat. Das Foto zeigt Georg Röttgen mit zwei weiteren Priestern in schwarzen Soutanen – vor dem Eingang der Kirche Sankt Pantaleon.
***
»Röttgen ist tot!« Mariannes Stimme klingt hoch, viel höher als sonst. Atemlos.
»Was? Wie …?« Ein kalter Schauer jagt Ruth über den Rücken.
»Man hat ihn ermordet! Ich kann jetzt nicht länger sprechen.« Die Verbindung bricht ab, die plötzliche Stille in der Telefonleitung verleiht Mariannes Worten nur noch mehr Gewicht.
Mechanisch, ohne darüber nachzudenken, zieht Ruth ihren Mantel an und hetzt los. Quer durch die Innenstadt, an den Kaufhäusern vorbei, blind vor Panik bahnt sie sich ihren Weg. Erst als sie die Telefonseelsorge erreicht, bleibt sie stehen und wischt sich mit einem Taschentuch Schweiß von der Stirn. Ist es wirklich klug, jetzt hierherzukommen? Auf einmal fühlt sie eine seltsame Scheu, aber darauf darf sie jetzt keine Rücksicht nehmen, vielleicht ist Hartmut Warnholz da, vielleicht kann sie irgendetwas tun, ihm beistehen, sich nützlich machen, einen Telefondienst übernehmen.
Sie schließt die Eingangstür auf, eilt die Treppe hinauf, prallt zurück. Scheinwerfer blenden sie, Polizeibeamte hasten hin und her, einer fängt sie ab, will sie wieder zurückschicken, lässt sie dann doch passieren.
»Korzilius. Kriminalpolizei. Und wer sind Sie?«
Der Sprecher ist groß und sportlich und blond und hat sehr blaue Augen. Stefan, denkt Ruth und umkrampft ihre Handtasche fester. So sah Stefan damals aus, als ich mich in ihn verliebte.
»Ich heiße Ruth Sollner, ich arbeite hier. Ehrenamtlich.«
Er winkt Ruth herein, seine Ähnlichkeit mit ihrem Exmann verfliegt.
»Eine Kollegin hat mich informiert, dass Priester Röttgen …« Ihr Halstuch! Es ist hellrot, pietätlos fröhlich, auf einmal fällt ihr das ein, aber als sie es aussuchte, konnte sie doch nicht wissen …
»Waren Sie auch gestern Abend hier?« Der blonde Kommissar lässt sie nicht aus den Augen.
»Nein, nicht ich, aber -«
Sie verstummt, ihr Magen krampft sich zusammen, ihre Kehle wird eng, als würde jemand das Halstuch zuziehen. Beatrice hat gestern Abend geputzt, das sollte sie zumindest. Aber das hat sicher nichts zu bedeuten, hat nichts mit dem Tod ihres Chefs zu tun und …
»Kommen Sie.«
Der Kommissar dirigiert sie in das Praktikantenzimmer.
»Hier ist die Spurensicherung schon fertig.« Er setzt sich auf den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch, Ruth sinkt auf einen Holzklappstuhl.
»Wer war gestern Abend hier?« Er klaubt ein zerfleddertes Notizbuch aus seiner Hosentasche.
»Wahrscheinlich meine Tochter. Sie putzt hier.«
»Name?« Er greift nach einem Kuli.
»Beatrice.« Das Wort kostet Ruth unglaublich viel Kraft, führt ihr wieder den kahlrasierten Schädel ihrer Tochter vor Augen. Wie ein heruntergekommener Straßenpunk sieht Beatrice damit aus. Sie hatten grässlich gestritten, so laut wie noch nie. Aber natürlich führten Ruths Argumente bei Beatrice nicht einmal zu einem Funken Einsicht. Türenknallend war sie aus der Wohnung gestürmt und seitdem hat Ruth sie nicht mehr gesehen.
»Beatrice Sollner, ja?« Der Kommissar blättert in seinem Notizbuch. »Wann putzt sie normalerweise?«
»Von acht bis zehn?«
Ein knappes Nicken. »So weit scheint das zu stimmen.«
Bea war also hier! Die Erleichterung, die Ruth deshalb fühlen müsste, bleibt aus. Wen hat die Polizei wohl bereits vernommen, was haben die Kolleginnen über Bea erzählt? Sie denken, dass Ruth nicht mitbekommt, wie mitleidig sie hinter ihrem Rücken über ihr schweres Los mit ihrer missratenen Tochter sprechen, aber sie merkt das natürlich trotzdem und schämt sich dafür.
»Georg Röttgen war gestern Abend ebenfalls hier«, sagt der Kommissar.
Das Halstuch! Immer enger klebt es an Ruths Hals. Sie nestelt am Knoten herum.
»Er hat oft abends gearbeitet.«
Der Kommissar nickt. Eine knappe, ungeduldige Bewegung, die kein bisschen zustimmend wirkt.
»Mochten Sie
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