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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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Kommissar steckt das Foto in seine Jackentasche. »Bis morgen früh um zehn Uhr.«
    »Das tut sie bestimmt.«
    Ruth wankt in ihr Schlafzimmer, nachdem er sich verabschiedet hat. Wo ist ihre Tochter? Bei Fabian, bei Janas Eltern, bei Stefan, bei den Gammlern am Dom? Oder bei einer früheren Klassenkameradin? Sie muss das überprüfen, schnell, und sie darf nicht die Nerven verlieren, sie muss aufhören, so schlecht von ihrer Tochter zu denken, sie muss sich frisch machen und etwas essen. Sie darf die Hoffnung nicht verlieren. Ruth kniet sich vors Bett und faltet die Hände.
    »Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …«
    Sie schließt die Augen, während sie betet, verharrt nach dem Amen noch eine Weile und versucht, die Kraft Gottes zu spüren oder zumindest ein klein bisschen Trost. Aber sie fühlt nichts, nur ein Geräusch dringt plötzlich in ihr Bewusstsein, ein verhasstes Geräusch, das keineswegs in ihr Schlafzimmer gehört.
    Ungläubig reißt Ruth die Augen auf und starrt direkt in die Stecknadelkopfaugen einer Heuschrecke, die sprungbereit auf ihrem Kopfkissen thront und zirpt. Das ist zu viel, das ist wirklich zu viel. Beatrice hat schon wieder nicht aufgepasst, als sie das unselige Chamäleon fütterte.
    Ruth springt auf und läuft auf den Flur. Das Zirpen verfolgt sie. Zwingt sie dazu, sich vor jedem Schritt zu vergewissern, dass sie nicht im Begriff ist, auf einen weiteren Ausreißer zu treten, so wie beim letzten Mal, als sie nachts zur Toilette musste und unter der nackten Fußsohle gerade noch das letzte Zappeln spürte, bevor der Insektenkörper zerbarst.
    Sie findet die Sprayflasche und geht zurück in ihr Schlafzimmer, sie hat wirklich Glück, die Heuschrecke hat sich noch nicht bewegt. Ein Geschöpf Gottes. Ein Geschöpf, das leben will. Ruth positioniert die Flasche im richtigen Winkel. O Vater, vergib mir. Sie drückt auf den Knopf, der Giftnebel zischt, die Heuschrecke krümmt sich zusammen, die zarten Fühler zittern, die Beine verkrampfen. O Vater, ich weiß, dass ich sündige. O Gott, sei mir gnädig. Erst nach einer kleinen Ewigkeit ist es vorbei.
    Es stinkt. Sie muss lüften, das Bett frisch beziehen. Ruth stolpert aufs Fenster zu und entdeckt eine weitere Heuschrecke an der Gardine. O Herr, warum hasst du mich, warum diese Strafe? Wieder holt sie das Insektenspray. Wieder drückt sie auf den Knopf. Aber die Flasche ist leer und das sinnlose Zischen bringt etwas in Ruth zum Zerreißen. Es wirft sie zu Boden, lässt sie die Fassung verlieren, bringt sie dazu, dass sie weint und schreit und mit den Fäusten auf den Teppich eindrischt, so fest, dass es schmerzt. Aber sie hört trotzdem nicht auf, sie kann einfach nicht, sie schlägt immer weiter, bis sie nichts mehr fühlt.
    ***
    Als die Schnippelei an Georg Röttgen endlich vorbei ist, ist Manni so müde, dass er ohne weiteres auf einem der Stahltische im Obduktionskeller einschlafen könnte, wenn denn die Aussicht auf Ruhe bestünde. Er zwinkert, versucht sich wieder zu konzentrieren. Ekaterina Petrowa wirft ihre Instrumente in eine Stahlschale, Karl-Heinz Müller pfeift Queen, Meuser stiert auf den Leichnam des Priesters, vermutlich ohne ihn wirklich zu sehen. Dessen Augen wiederum glubschen himmelwärts ins Leere, dorthin, wo er wohl seinen Schöpfer vermutet hat.
    »Derselbe Tathergang also.« Der Tonfall des Staatsanwalts macht klar, wie wenig ihm das gefällt. Er nickt ihnen zu und rauscht zur Tür, kollidiert dort um ein Haar mit Judith Krieger. Ohne zu zögern, marschiert sie zum Obduktionstisch, starr vor Erstaunen sehen die anderen sie an.
    »Personalnotstand. Millstätt hat mich zurückgeholt.« Sie lächelt knapp. »Eigentlich hab ich für heute schon wieder Feierabend, aber ich wollte zumindest einen Blick riskieren.«
    »Bitte sehr.« Müller fängt sich als Erster. Er grinst, deutet eine Verbeugung an und als sei das ein Kommando, beginnt seine russische Kollegin im Stakkato die wichtigsten Fakten zu referieren. So wie Jens Weiß ist auch Röttgen ungebremst zu Boden gefallen, bevor der Täter ihm das Schwert ins Herz rammte. Allerdings hat der Priester durch den Sturz keinen Schädelbruch, sondern eine Fraktur der rechten Schulter erlitten. Die Wahrscheinlichkeit, dass er seinem Mörder während der Tat in die Augen sah, ist also groß.
    »Warum hat er sich nicht gewehrt?« Auch wenn die Krieger noch ziemlich schlapp aussieht, fackelt sie nicht lange, sondern kommt direkt zur Sache, ganz genau so, wie man sie

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